project: equinoX - Das deutschsprachige DVD und Film Projekt im Internet
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Der junge Tore (Julius Feldmeier) hat sein Leben voll und ganz dem christlichen Glauben und den sogenannten „Jesus Freaks“, einer Jugendbewegung verschrieben, in der neben der Liebe zu Jesus, Enthaltsamkeit und Gewaltlosigkeit vor allem der freundschaftliche Zusammenhalt eine große Rolle spielt. Er nächtigt bei seinem Freund Eule auf der Couch, hört Punk-Rock mit christlichen Texten, trifft sich mit Gleichgesinnten und kein Wässerchen scheint den jungen Mann trüben zu können, der sämtliche Widerstände im Leben auch als eine Art Prüfung sieht, die ihn mit seinem großen Idol Jesus näher bringt.
Als er eines Tages an einer Autobahnraststätte auf den Familienvater Benno (Sascha Alexander Gersak) trifft und mit einem Gebet dessen defektes Auto auf scheinbar göttliche Weise repariert ist Benno an dem naiv erscheinenden Jungen und seinen für sein Alter und Erscheinung ungewöhnlichen Ansichten interessiert und Tore erzählt von einem Treffen von Gleichgesinnten, dass der sympathisch erscheinende Familienvater aus Neugier besucht. Als Tore während eines Konzerts aufgrund seiner Epilepsie auf der Tanzfläche zusammenbricht ist Benno zur Stelle und hilft dem Jungen, der erst auf dem Weg zum Krankenhaus wieder erwacht und bietet Tore an, jederzeit zu ihm uns seiner Patchwork-Familie über den Sommer zu dessen Schrebergartenhaus zu kommen um dort ein paar Tage zu verbringen.
Wenig später nimmt Tore das herzliche Angebot von Benno auch gerne an, als Eule seinen Schlafplatz während seiner kurzen Abwesenheit bei Benno bereits anderweitig vergeben hat und der junge Tore fühlt sich im Schrebergarten und im für ihn ungewohnten Familienverband von Benno, Astrid (Annika Kuhl) und den beiden Kindern Sanny (Swantje Kohlhof) und Dennis (Til Theinert) auch sichtlich wohl. Er hilft Benno im Garten und bei der Arbeit am Haus, unterstützt Astrid beim Haushalt, spielt mit Dennis und auch die introvertierte Sanny freundet sich trotz anfänglicher Skepsis mit dem Jungen mit den seltsamen Ansichten an, der wie die Fünfzehnjährige eher zu den Außenseitern zählt und sein Zelt im Garten mit aus Papier gefalteten Tieren verschönert.
Doch schon bald kippt die Stimmung im Schrebergarten und Benno offenbart zunehmend seine cholerische Art und sadistische Ader, in dem er den Jungen zuerst aus Jux und später mit System demütigt und selbst vor brutalen Attacken nicht zurückschreckt. Tore lässt jedoch alles geduldig und widerstandslos über sich ergehen und verliert auch nicht den Glauben an das Gute im Menschen als er die erschreckenden Gründe für Sannys Verschlossenheit entdeckt. Selbst als sich Astrid und auch Bennos Umfeld an den Quälereien beteiligt und ihm die Möglichkeit der Selbstbestimmung genommen wird, bleibt Tore seinen Idealen treu und ist bereit seinen persönlichen Kreuzgang bis zum bitteren Ende durchzustehen…
Puh! Ganz schön harter Stoff, den uns die deutsche Regisseurin Katrin Gebbe mit ihrem Leinwand-Debüt „Tore tanzt“ präsentiert und basierend auf einer wahren Begebenheit eine Art moderne Kreuzigungsgeschichte über einem streng gläubigen Jugendlichen erzählt, allen Widrigkeiten zum Trotz seinen religiösen Idealen treu bleibt und so scheinbar unbeirrbar sein eigenes Schicksal besiegelt und auch nicht die Flucht ergreift, als sich mehrfach die Möglichkeit dazu bietet. Wie in Lars von Triers „Breaking the Waves“ erzählt der deutsche Streifen aus dem Jahre 2013 mit ähnlich nüchterner Bildsprache dabei die Geschichte des tiefgläubigen und herzensguten Tore, der sich für andere aufopfert und seine Konfrontation mit dem Bösen in Form von Benno als Prüfung seines Glaubens erachtet und so eine Spirale der Gewalt in Gang setzt, die später eine erschreckende Eigendynamik entwickelt.
Die unter die Haut gehende Geschichte wird dabei in drei mit „Liebe“, „Glaube“ und „Hoffnung“ betitelten Kapiteln erzählt, die wohl auch nicht von ungefähr die gleichen Namen tragen wie die drei Spielfilme aus Ulrich Seidls „Paradies“-Trilogie, dessen nicht minder erschütternde Werke hier ebenfalls als Vergleich herangezogen werden können. Und es ist auch nicht zu hoch gegriffen, wenn man „Tore tanzt“ und Regisseurin Katrin Gebbe in einem Atemzug mit den beiden genannten Regisseuren vergleicht, denn das was hier geschaffen wurde, ist ein Werk, dass den Zuschauer auch noch weit nach dem Abspann beschäftigt und ein Szenario entwickelt, dass nach positivem Anfang immer düsterer und dennoch nachvollziehbar bleibt.
Es ist ja keine Selbstverständlichkeit, wenn man von einem deutschsprachigen Film erstmalig aus englischsprachigen Medien erfährt und im Falle von „Tore tanzt“ war es die Autorin Kier-La Janisse („House of Psychotic Women“/FabPress) und ihr Artikel für Fangoria, der im Mai 2014 online veröffentlicht wurde und über einen Streifen berichtete, den diese nach der Aufführung in Cannes als „riveting example fo transcendent horror“ beschrieb und so erstmalig meine Aufmerksamkeit bewusst auf dieses Werk lenkte. Nach einer kurzen Internet-Recherche entpuppte sich „Nothing bad can happen“ ja als das deutschsprachige Werk „Tore tanzt“ und wie ich mittlerweile erfahren durfte, war der Streifen im Jahr 2013 auch der einzige deutsche Film, der im Neben-Bewerb „Un certain Regard“ und von dem amerikanischen Label „Drafthouse“ auch prompt für die Verwertung im amerikanischen Raum erworben wurde.
Obwohl „Tore tanzt“ sehr eindeutig seine beiden Hauptdarsteller in „Gut“ und „Böse“ teilt ist Gebbes Streifen alles andere als schwarz-weiß ausgefallen und die Geschichte wird in Anbetracht dessen, dass man über die Figuren kein Hintergrundwissen erfährt, überraschend vielschichtig ausgefallen So haben sowohl Tore und Benno keine Vorgeschichte und man kann als Zuschauer die Gründe und die Motivation auch nur erahnen, warum sich die Beiden scheinbar wider besseren Wissens auf einen ungleichen Kampf einlassen, der augenscheinlich nur das Ziel hat den Willen eines Andersdenkenden zu brechen oder im Umkehrschluss mit scheinbar unbeirrbarer Geduld und immenser Leidensfähigkeit über das Böse triumphieren zu wollen.
Und die physische und psychische Gewalt, die Gebbe im Verlauf des 110minütigen Streifen dem Zuschauer zumutet geht doch FSK-16-Freigabe auch weit über ein normales Maß hinaus und gipfelt in mindestens einer Szene, die zumindest bei mir als abgebrühten Horrorfan körperliches Unbehagen bereitete. Dennoch hat „Tore tanzt“ mit fragwürdigen und pseudoreligiösen Gewaltfantasien al a „Martyrs“ so gar nichts am Hut und das Grauen entsteht im Fall von „Tore tanzt“ auch eher aufgrund seiner subtilen Erzählweise, der nüchternen Bildsprache und der kontroversen Thematik, die aber nie für die Geschichte ausgenutzt werden, sondern ein furchtbares Gesamtbild ergeben, dass auch so gar nicht mit dem scheinbar harmonischen Anfang und der präsentierten Schrebergartenidylle in Einklang zu bringen ist.
Das dieser Low-Budget-Streifen aus deutschen Landen aber so hervorragend funktioniert liegt neben dem Mut sich überhaupt an einen derartigen Streifen abseits deutscher Komödienbeliebigkeit zu wagen an den grandiosen Hauptdarstellern, denen es auch gelingt, ihre jeweiligen Figuren glaubhaft zu verkörpern. So ist Julius Feldmeier mit seiner verkörperten Mischung aus erfrischender Naivität, porenreiner Unschuld und religiösem Enthusiasmus die Idealbesetzung des Tore, während Sascha Alexander Gersak als Benno mit zwei Gesichtern glänzt und einerseits sympathisch und in der nächsten Sekunde erschreckend wirkt. Doch auch die restlichen Darsteller sind durch die Bank gut gecastet und Swantje Kohlhof als Sanny bleibt genauso nachhaltig im Gedächtnis wie Annika Kuhl als Astrid, die fast die undankbarste Rolle des Streifens übernommen hat.
Die DVD aus dem Hause „Rapid Eye Movies“ bringt das bemerkenswerte Regie-Debüt auch in solider Bildqualität und hat neben einem schlicht gestalteten Booklet mit Bilder und Zitaten vom Film auch noch einen Audiokommentar mit Regisseurin Kathirn Gebbe und Tore-Darsteller Julius Feldmeier an Bord. Weiters gibt es noch drei interessante Interviews mit den beiden Ebengenannten und eines mit der Produzentin Verena Gräfe-Höft von der Produktionsfirma Junafilm, das sich mit der Entstehung und der Einladung nach Cannes beschäftigt. Abgerundet wird das positive Gesamtpaket dann noch mit dem Trailer zum Film.
Unterm Strich bleibt ein erschütterndes Drama für Zuschauer die auch etwas aushalten und in der vorliegenden Form genauso gut von Lars von Trier und Ulrich Seidl hätte kommen können. Dass dieser mutige, kontroverse und sicher noch heftig zu diskutierende Streifen ausgerechnet das Debut einer deutschen Regisseurin darstellt ist so bewundernswert wie die Tatsache, dass „Tore tanzt“ mit den ganzen Mainstream- und Amateur-Filmen die man sonst aus Deutschland kennt, nur herzlich wenig zu tun hat. Dass „Tore tanzt“ in Cannes gelaufen ist und als fremdsprachiger Film sogar einen Verleih in den Staaten gefunden hat, spricht für die einzigartige Qualität des herausfordernden Streifens, den man nach einer Sichtung auch unter Garantie nicht mehr so schnell vergisst.
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@ Jochen,
vielen Dank fürs Review, ist nun auch endlich Online: http://chilidog.project-equinox.de/?page_id=9830
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