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Weltweit schätzt man die Zahl der sogenannten Straßenkinder laut Wikipedia auf knapp 100 Millionen und in Entwicklungsländern, aber auch in westlichen Ländern gibt es Millionen Minderjährige, die aus unterschiedlichsten Gründen auf der Straße leben (müssen) bzw. in Metropolen ohne festen Unterstand heranwachsen. Während einerseits die bittere Armut der Eltern eine Rolle spielt, ist es in den westlichen Ländern eher die Flucht vor dem oftmals zerrütteten und gewaltvollen Elternhaus, die Minderjährige veranlasst, ein Leben auf der Straße vorzuziehen um sich mit Betteleien, Prostitution und kriminellen Dingen über Wasser halten.
Der Dokumentarfilm „Streetwise“ von Martin Bell aus dem Jahre 1984 ist ein Oscar-nominierter Streifen, der Jugendlichen aus den Straßen von Seattle, der größten Stadt im Nordwesten der Vereinigten Staaten eine Stimme gibt, sie eine Zeit lang begleitet und sie in eigenen Worten über ihr Leben und Schicksal berichten lässt. Neun Minderjährige zwischen vierzehn und achtzehn Jahren, die sich auf den Straßen der gar nicht mal so großen Stadt treffen, Passanten anschnorren, ihre Körper für Geld verkaufen und in Abbruchhäusern oder bei alkoholkranken Eltern wohnen und die vor allem eines gemeinsam haben: den Wunsch nach einem normalen Leben.
„Streetwise“ ist dann auch ein eigentlich sehr bedrückender Streifen, auch wenn sich die portraitierten Minderjährigen mit Namen wie Rat, Erin, Mike, Kimberly und Munchkin etc. auch redlich Mühe geben ihre Situation als so normal wie möglich zu präsentieren und auf den ersten Blick für ihr Alter überraschend abgeklärt und optimistisch wirken. Doch im Verlauf des Filmes wird auch recht rasch klar, dass die Situation, in der sie sich befinden keinesfalls frei gewählt sind, sondern oftmals eine Vergangenheit dahinter steckt, deren schreckliches Ausmaß man nur erahnen kann.
Martin Bell begleitet die Jugendlichen und filmt diese bei Statements, Gesprächen untereinander, scheinbar banalen Dingen und ist auch dabei, wenn sie auf den Weg zu Ärzten und Organisationen machen. Dabei offenbart er scheinbar nebenbei Momenten von erschreckender Ehrlichkeit, wenn z.B. die junge Erin, die von der leicht verdienten Kohle und vielen Freiern vom Strich berichtet und wenig später bei der Frauenärztin rasch ersichtlich wird, dass sie abseits von Geschlechtskrankheiten über ihren Körper noch sehr wenig Bescheid weiß.
Diese Szenen sind immer unkommentiert und die Filmemacher oder Crew sind in dem authentisch wirkenden Dokumentarfilm auch nie zu sehen und mischen sich auch nicht merklich ins Geschehen ein. Die Handlungen sind sehr ausgewogen montiert und obwohl der Streifen natürlich eher dramatisch ausgefallen sind, so wirkt „Streetwise“ nie niederschmetternd, sondern versprüht auch eine Vielzahl optimistischer Momente, wenn auch Themen wie Freundschaft, Zusammenhalt und Loyalität zum Ausdruck kommt, die diese jungen Menschen untereinander vereint.
„Streetwise“ spart auch Themen wie Drogen, Alkohol, Kriminalität und Armut nicht aus und auch wenn drastische Momente ausgespart werden, zeigt der Streifen doch sehr eindringlich, mit welchen Problemen diese jungen Menschen tagtäglich zu kämpfen haben. Gewalt steht an der Tagesordnung und der Wunsch nach einem besseren Leben wird von mangelnder Bildung verhindert. Dennoch scheint der eingeschlagene Weg für die Betroffenen noch immer besser zu sein, als dass, was sie zuhause erwartet und es müssen schon extreme Erlebnisse gewesen sein, die Jugendliche zu dem Leben auf der Straße veranlasst.
Ausschlaggebend für die Produktion des Streifens war Mary Ellen Marks und Cheryl McCalls Artikel „Streets of the Lost“ im Life-Magazine, der im Juli 1983 einen damals wie heute schockierenden Einblick in das Leben von Straßenkindern zeigte und den Text mit schwarz-weißen Bildern umrahmte. Regisseur Martin Bell, Ehemann von Mary Ellen Marks begleitete daraufhin die Jugendlichen und es entstand auch ein Bildband, der im Jahre 1988 veröffentlicht wurde. „Streetwise“ war im Jahre 1985 auch bei den Oscars als „Beste Dokumentation“ nominiert, der jedoch an Rob Epsteins Biopic/Doku „The Times of Harvey Milk“ ging.
Die Grundlage der DVD ist die Fernsehausstrahlung des NDR, die „Streetwise“ in Jahre 1987 im Original mit deutschen Untertiteln ausstrahlte. Die Bildqualität erinnert zwar etwas an VHS, was aber für diese Art von Dokumentarstreifen durchaus noch in Ordnung geht. Die Untertitel wurden wohl ebenfalls von der deutschen Fernseh-Fassung übernommen, sodass diese von der üblichen CMV-Laservision-Norm etwas abweichen, gut lesbar, aber nicht optional sind. Als Bonus gibt es noch ein paar Texttafeln, die beschreiben, was aus den Kindern geworden ist, sowie vier Trailer aus dem „Coming-of-Age“-Programm der Berliner Filmfirma.
Unterm Strich bleibt eine berührende Dokumentation, die frei von jeglicher Wertung den harten Alltag amerikanischer Straßenkinder zeigt und dabei auf drastische und plakative weitgehend verzichtet. Martin Bell legt auch weniger Wert auf die äußeren Umstände, sondern den jeweiligen Menschen und bringt dadurch auch berührende Geständnisse zu Tage, die die schicksalhaften Begebenheiten erahnen lassen, die dazu geführt haben, dass diese Kids auf der Straße gelandet sind. Anstatt auf die Tränendrüse zu drücken, bietet der Streifen bei all seiner Traurigkeit doch immer wieder optimistische Momente und zeigt junge Menschen, die selbst in Extremsituationen nicht die Fassung, ihren Mut und Lebensfreude verlieren.
Beitrag geändert von jogiwan (21.March 2013 16:52:33)
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@ Jochen,
vielen Dank fürs Review, ist nun auch schon Online: http://chilidog.project-equinox.de/?page_id=9172
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