project: equinoX - Das deutschsprachige DVD und Film Projekt im Internet
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Krankenschwester „Monte Rosa“, der Rettungsfahrer „Mont Blanc“, Trainer „Matterhorn“ und eine junge Turnerin bieten in Athen einen ganz besonderen Service an. Sie schlüpfen stundenweise und gegen Geld in die Rollen kürzlich Verstorbener, um so die Trauer der Hinterbliebenen ein wenig zu mildern. Dazu tragen sie die Kleidung der Verschiedenen, machen gemeinsame Unternehmungen und spielen Szenen nach, die an die Verstorbenen erinnern, ehe sie wieder aus dem Leben der Kundschaft verschwinden.
„Mont Blanc“ wacht über die Ausführung des Dienstes und hat zum Schutz seiner Leute strikte Regeln aufgestellt, die es zu befolgen gibt und eine tiefere Bindung verhindern soll. Als eines Tages die junge Mary nach einem Verkehrsunfall ihren Verletzungen erliegt und ihre Eltern erschüttert zurücklässt, erzählt „Monte Rosa“ ihren Kollegen nicht von dem Ableben der jungen Tennisspielerin, sondern macht den Eltern ein eigenmächtiges Angebot und schlüpft später in die Rolle der jungen Frau. Sie trägt deren Kleidung, erzählt von imaginären Tennisturnieren und trifft sich später auch mit dem Freund der Verstorbenen.
Auch bei anderen Einsätzen überschreitet „Monte Rosa“ die vorgegebenen Grenzen und gibt sich einem ihrer Auftraggeber auch körperlich hin, was jedoch strengstens verboten ist. Immer mehr verstrickt sich die gesellschaftliche Außenseiterin in ihren zahlreichen Rollen und steuert so geradewegs auf eine emotionale Katastrophe zu. Als das eigenmächtige Handeln auch den restlichen Mitgliedern der „Alpen“ nicht verborgen bleibt, entschließt sich „Mont Blanc“ zu einem drastischen Schritt, der „Monte Rosa“ erst recht in die Krise stürzt…
„Die Alpen sind so großartig, dass sie jeden Berg auf der Welt ersetzen könnten. Sie selbst können aber von niemandem ersetzt werden.“[i]
Hui… ein ganz schön schräges Filmchen, dass uns der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos („Dogtooth“) hier mit seinem 2011 und mitten in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise entstandenen Werk „Alpen“ präsentiert. Was sich in der Inhaltsangabe ja schon etwas seltsam anhört, ist ja mindestens noch einmal so seltsam in Szene gesetzt bzw. erzählt und präsentiert eine überraschende Mischung aus Außenseiter-Drama und Groteske, welche in vielerlei Hinsicht interpretierbar ist und somit wohl auch genau den Nerv vieler Zuschauer treffen wird.
„Alpen“ behandelt neben dem Spiel mit unterschiedlichen Identitäten und Wünschen abermals das Thema von ungleichen Machtverhältnissen und Abhängigkeiten in unterschiedlicher Ausprägung, die Angst vor Veränderungen und fehlgeleitete Empathie. Lanthimos hat dabei wohl auch sichtlich Freude daran, seinem Zuschauer mit einer nicht näher definierten Figuren, einer ungewohnten Handlung und seltsamen Momenten zu verwirren, die recht bruchstückhaft in den Raum geworfen werden und denen erst später eine tiefere oder möglicherweise auch gänzlich andere Bedeutung widerfahren.
Die Geschichte ist auch recht ungewöhnlich erzählt und bietet gleich zu Beginn eine eigentlich niederschmetternde Szene, in denen die junge Turnerin zu Carl Orffs „Carmina Burana“ routiniert ihr sportliches Programm herunterspult. Doch die junge Frau ist unzufrieden mit der Musikauswahl und möchte sich lieber zu eingängiger Popmusik bewegen, was ihr jedoch mit sehr strengem Ton und sogar mit der Androhung von brachialer Gewalt von ihrem Trainer verboten wird.
Dieser groteske Dialog in „Friss oder Stirb“-Manier ist dann auch der ideale Auftakt zu einem absolut unberechenbaren und vor allem unvorhersehbaren Streifen, bei dem man nicht einmal sicher sein kann, ob die Person, die die junge Frau als „den besten Trainer der Welt“ bezeichnet, überhaupt der Trainer ist und das Umfeld, in denen sich die Figuren bewegen überhaupt in dieser Form so „real“ ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Geschichte steht dabei sinnbildlich wohl auch für die griechische Bevölkerung, die sich lieber mit Zwang und aller Kraft an bewährte Dinge und Lebensweisen klammert, als Veränderungen irgendeiner Art zuzulassen.
[i]„Ist das Ende in Sicht, bringen die Alpen dir Licht“
Die Bilder des unterkühlten Streifen wirken sehr real und immer wieder begleitet Yorgos Lanthimos seine Darsteller, als würde er ihnen im Genick sitzen und lässt andere Personen im Hintergrund unscharf erscheinen, damit das Augenmerk auf eine bestimmte Person gerichtet bleibt. Ich fühlte mich bei meiner Sichtung auch mehrfach auch an Ulrich Seidl und Lars von Trier erinnert, obwohl hier ganz bewusst auf die Distanz zwischen Darsteller und Zuschauer geachtet wird. Dennoch lässt einen „Alpen“ nicht unberührt und vor allem die Art wie „Monte Rosa“ in guter Absicht in ihr emotionales Verderben rennt, lässt Erinnerungen an „Breaking the Waves“ hochkommen.
Wie man die Bruchstücke und die Geschichte im Ganzen interpretiert, liegt bei „Alpen“ sicherlich beim Betrachter und es ist wohl wenig verwunderlich, dass gerade griechische Filme wie auch „Attenberg“ von Regisseurin Athina Rache Tsangari, der von Lanthimos produziert wurde und in dem er auch eine Rolle übernahm, mit ihrer Verweigerung an gängige Sehgewohnheiten wieder mehr in den Fokus der breiten Öffentlichkeit gerückt werden. Es ist auch zweifelsfrei sehr interessant zu sehen, wie kreative Künstler die Krise als Chance erkennen, sich vernetzen und ihrerseits gesellschaftspolitische Themen in ihren Filmen verarbeiten.
Darstellerisch ist „Alpen“ ebenfalls sehr, sehr gut und besticht vor allem durch die eindringliche Darbietung von Aggeliki Papoulia als „Monte Rosa“, die ihre Verzweiflung auch sehr gut zum Ausdruck bringt. Auch Arianne Labed, die mir auch schon in „Attenberg“ sehr gut gefallen hat, ist hier wieder mit von der Partie und überrascht hier neben ihrer Beweglichkeit auch mit der Fähigkeit ohne Worte viel auszudrücken. Dagegen verblassen dann auch die restlichen und vor allem männlichen Darsteller, deren Rollen auch bewusst eher negativ gehalten sind.
Nachdem der Streifen bereits im Juni 2012 in ausgewählte Kinos gekommen ist, wurde der Streifen nun im Februar 2013 auch von Rapid Eye Movies ungekürzt mit einer FSK12-Freigabe auf DVD veröffentlicht. Die Qualität ist recht ansprechend und bietet den Streifen im griechischen Original samt deutschsprachigen Untertiteln. Leider hat es jedoch kein Bonusmaterial auf den Silberling geschafft, wobei die Intention des Machers und ein paar Meinungen sicherlich interessant gewesen wären. So bleibt für den Fan lediglich das hübsche Artwork und der Trailer zum Film.
„Alpen“ ist nach „Attenberg“ bereits der zweite interessante Beitrag aus Griechenland, der sein Potential aus der Krise des Landes schöpft und mit einer originellen und vor allem sehr ungewöhnlichen Geschichte punkten kann. Die Umsetzung in nüchternen und ernüchternden Bildern ist ebenfalls sehr gelungen und auch wenn „Alpen“ sicherlich kein Film für jeden Tag ist und der Streifen auch teilweise etwas rätselhaft, obskur und dennoch unangenehm daherkommt, sollte man sich diesen zweifelsfrei sehr interessanten Streifen keinesfalls entgehen lassen.
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@ Jochen,
vielen Dank fürs Review, ist nun auch schon Online: http://chilidog.project-equinox.de/?page_id=9207
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