project: equinoX - Das deutschsprachige DVD und Film Projekt im Internet
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Die 23jährige Marina (Ariane Labed) lebt in einem griechischen Küstenort und chauffiert für eine Bergbaufirma Arbeiter zwischen Hotel und Firmengelände hin und her. Doch Menschen sind der introvertierten Frau suspekt und außer ihrer umtriebigen Freundin Bella (Evangelia Randou) und ihrem krebskranken Vater Spyros (Vangelis Mourikis) hält die hübsche Marina auch keine weiteren Kontakte sozialer Natur und verbringt ihre Zeit lieber vor dem Fernseher und dem faszinierten Betrachten von Tierdokumentationen von Sir Richard Attenborough, den sie Attenberg nennt.
Sie begleitet ihren Vater mit seltsam anmutender Ruhe zu seiner Chemotherapie, hört Musik der amerikanischen Gruppe „Suicide“ und unternimmt mit Bella zaghafte sexuelle Experimente um dem Sinn des menschlichen Geschlechtstriebes auf die Spur zu kommen. Eines Tages wird sie von einem Fahrgast (Giorgos Lanthimos) auf sein Zimmer eingeladen und nutzt dieses um sich endgültig dem Wagnis der eigenen Sexualität zu stellen. Doch das zuvor Erprobte erweist sich im direkten Kontakt mit einem männlichen Wesen als wenig zielführend und wird durch Marinas Versuch alles richtig zu machen ruiniert.
Nur sehr langsam gelingt es der jungen Frau sich dem fremden Mann zu öffnen, der Marina aber aufrichtig zu mögen scheint. Durch diese Beziehung wird aber auch das ambivalente Verhältnis zu Bella auf die Probe gestellt, die sich in dieser Situation auf einmal als potentielle Konkurrentin entpuppt. Und während das Leben des Vaters langsam dem Ende zugeht und sich dieser bereits sehr konkrete Gedanken zu seiner Beerdigung macht, beginnt Marina ihr Leben nun selbst in die Hand zu nehmen…
Während Griechenland früher als Eldorado für Urlauber und Aussteiger galt und die streiklustige Bevölkerung aufgrund ihrer Mythologie, Ouzo und Olivenöl im Bewusstsein der resteuropäischen Menschheit verankert war, geriet das Land im Jahre 2009 schlagartig durch negative Schlagzeilen in das Blickfeld der europäischen Bevölkerung. Eine Regierungsübernahme, verschleierte Haushaltsdefizit, kriminelle Machenschaften der Bevölkerung, Korruption, sowie eine hohe Arbeitslosigkeit, Perspektivenlosigkeit und damit einhergehende und auch sehr drastische Einschnitte zur Rettung der Staatsfinanzen lassen das Land seitdem nicht mehr zur Ruhe kommen.
Doch jede Krise bedeutet gleichzeitig die Chance auf Veränderung und wie üblich sind es die kunstsinnigen Bewohner des Landes, die auch als eine der Ersten die Zeichen der Zeit begriffen haben und dieses auf ihre Weise verarbeiten. Obwohl Filmförderungen utopisch erscheinen und öffentliche Gelder an anderer Stelle viel dringender benötigt werden, haben sich griechische Filmemacher der Krise zum Trotz untereinander koordiniert und zusammengeschlossen um gemeinsame Ressourcen zu bündeln und haben mit „Dogtooth“, „Attenberg“ und „Alpen“ gleich drei Filme geschaffen, die international auf viel Interesse gestoßen sind.
Ohne die Krise wäre „Attenberg“ wohl in der vorliegenden Form auch nicht entstanden, doch nun – wo ohnehin alle Blicke auf den Mittelmeerstaat gerichtet sind - nutzt Regisseurin Athina Rachel Tsangari die erhöhte Aufmerksamkeit auf ihr Geburtsland auch sehr geschickt, um eine Geschichte zu erzählen, die symbolisch wohl für die Lage einer ganzen Nation steht. Eine Nation, die sich zu lange treiben hat lassen, ein bestehendes System bis über die Grenzen des Erträglichen hinaus ausgenutzt hat und erst langsam und schmerzhaft erkennen muss, dass sie die Dinge von sich aus selbst in die Hand nehmen muss, wenn sie langfristig etwas verändern möchte.
Die Geschichte über die junge Marina wirkt trotz universeller Themen jedoch seltsam unterkühlt und der Film von emotionalem Ballast und Sentimentalitäten jeglicher Art befreit. Liebe ohne Gefühl, Sexualität ohne Lust und Tod ohne Trauer beschreiben in kurzen Worten den 2010 entstandenen Film wohl am Besten und mit der zentralen Figur werden sich daher wohl auch die Wenigsten identifizieren können. Dennoch schafft es Tsangari mit ihrer ungewöhnlichen Geschichte und der Mischung aus dramatischen, komischen und auch seltsam-anmutenden Szenen, dass sich der Zuschauer beim Betrachten der Bilder mit Dingen beschäftigt, die auf den ersten Blick ganz alltäglich scheinen.
Die zwischenmenschliche Kommunikation, Gefühle und Sexualität, die für den Großteil der Menschheit ja zum normalen Tagesgeschäft gehören, ist für Marina befremdlich, gar bedrohlich und nur langsam schafft es die junge Frau aus dem Schneckenhaus zu kommen, das sie selbst geschaffen hat. Dabei spielen wohl auch Erziehung, das zerrüttete Umfeld, die Gesellschaft und auch die mangelnde Perspektive für eine bessere Zukunft eine große Rolle. Die fragmentarisch erzählte Geschichte und seine Figuren lassen dabei bewusst auch sehr viel Raum für Interpretationen und Antworten auf viele Fragen werden nicht geliefert.
Bei den Reaktionen des Publikums ist dann auch alles möglich und von Zuspruch bis totale Ablehnung und der Klassifizierung von Drama bis hin zur schwarzen Komödie ist auch laut Aussage von Athina Rachel Tsangari aufgrund ihrer Inszenierung auch alles möglich. Ganz mag man den Hype um den Streifen als Fan des zeitgenössischen und europäischen Kinos auch nicht ganz verstehen und irgendwie ist das Werk auch etwas zu zurückhaltend, auch wenn „Attenberg“ meines Erachtens sicherlich ein guter, wenn auch kein überragender Film geworden ist.
Handwerklich gibt es jedoch nicht viel zu meckern und die tristen und verregneten Bilder eines etwas heruntergekommenen Industrie-Hafenortes in der Region Böotien, der ungewöhnliche Soundtrack mit Beiträgen der New Yorker Truppe „Suicide“ und lange Einstellungen ohne Dialoge passen hervorragend zu der minderentwickelten Empathie-Fähigkeit von Marina und ihrem Umfeld. „Attenberg“ ist dann auch in bester europäischer Autorenfilm-Tradition gehalten, offenherzig, ehrlich, provokant und kontrovers und wohl das Statement zur Lage der Nation, dass sich das angepeilte Zielpublikum in der Form erwartet hat.
Die Darstellung von Ariane Labed als Marina ist aber zweifelsfrei recht beeindruckend und wurde bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig auch entsprechend gewürdigt. Auch die restlichen Darsteller sind nicht minder gut gewählt und vor allem Vangelis Mourikis als sterbenskranker und wortkarger Architekt, der zwiespältig und selbstkritisch auf sein Schaffen zurückblickt, überzeugt mindestens genauso. In der eher kleinen Rolle des namenlosen Fremden gibt es Giorgos Lanthimos zu sehen, der den freizügigen Streifen nicht nur mit-produzierte, sondern seines Zeichen auch bei dem bereits erwähnten „Dogtooth“ Regie führte und bei „Alpen“ das prämierte Drehbuch verfasste.
Die DVD aus dem Hause Rapid Eye Movies bringt bereits mehrfach preisgekrönten Streifen im griechischen Original mit deutschen Untertiteln, wobei der mit einer FSK12-Plakette überraschend niedrig freigegebene Streifen auch über seine solide Bild- und Tonqualität verfügt. Das Bonusmaterial ist zwar eher mickrig, überzeugt aber durch ein Interview mit der Regisseurin, welches 2012 in Berlin aufgenommen wurde und in der Tsangari auch interessante Dinge zur Lage des griechischen Kinos erzählt. Abgerundet wird das positive Gesamtbild dann noch mit dem Kinotrailer.
Unterm Strich bleibt ein Streifen über eine junge Frau, die durch den langsamen Krebstod ihres Vaters wachgerüttelt wird und daraufhin beginnt, ihren emotionalen Panzer abzulegen, sich anderen Menschen zu öffnen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die Geschichte, die sich auch auf die Bevölkerung des Landes umlegen lässt, ist dabei sehr emotionsarm erzählt und immer wieder von humorvollen Momenten unterbrochen, die es auch schwer machen, eine entsprechend-vorbelegte Kiste für „Attenberg“ zu finden. Zwar kann ich die scheinbar überschwängliche Euphorie um den Film nicht so ganz nachvollziehen und ohne Krise im Rücken wäre das Interesse wohl nicht annähernd so groß ausgefallen, doch das soll keinesfalls die augenscheinlichen Qualitäten dieses großartigen und doch kleinen Filmes schmälern.
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@ Jochen,
vielen Dank fürs Review, ist nun auch schon Online: http://chilidog.project-equinox.de/?page_id=9056
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