project: equinoX - Das deutschsprachige DVD und Film Projekt im Internet
Sie sind nicht angemeldet.
Brandon lebt in einer schicken Wohnung in New York, ist erfolgreich in seinem Job und versteht sich auch bestens mit seinem draufgängerischen Boss, mit dem er nachts durch die Häuser zieht. Doch der Mitdreißiger ist süchtig nach Sex, braucht mehrmals täglich den Kick und hat sein gesamtes Leben darauf eingestellt. Auf seinen Bürocomputer sammelt er einschlägige Filmchen und onaniert am WC, abends sucht er schnelle Abenteuer, holt sich auch Prostituierte in seine Wohnung oder über entsprechende Websites die notwendige Befriedigung.
Obwohl Brandon ständig seine Sexualpartner wechselt, so ist der doch ein zutiefst einsamer Mensch, der Schwierigkeiten hat, sich anderen Menschen zu öffnen. Daher ist er auch überfordert, als eines Tages überraschend seine etwas labile Schwester Sissi auf der Matte steht und einige Tage bei ihrem Bruder wohnen möchte. Ihre Suche nach körperlicher Nähe und Aufmerksamkeit bringt Brandons routiniert-ablaufendes Leben ins Wanken und konfrontiert diesen mit Bedürfnissen anderer Menschen, die er völlig aus seinem Blickfeld ausgeblendet hat.
Die chaotische und emotionale Sissi wird von Fremdkörper zur Bedrohung seiner Sucht und Brandon ist auf einmal gezwungen, seinen Tagesablauf zu ändern und auf täglichen Sex zu verzichten. Der Versuch sich einer Arbeitskollegin zu nähern scheitert und als Sissi auch noch mit seinem Boss in die Kiste steigt, kommt es zu einem ernsthaften Streit, bei dem sich die Geschwister gegenseitig mit unschönen Wahrheiten konfrontieren. Als Brandon daraufhin loszieht um sich wieder einmal den Kick zu holen, scheint er endgültig die Kontrolle über sein Leben verloren zu haben…
Das Thema Sex-Sucht geistert ja dank prominenter Menschen immer wieder mal durch die Medien, ist Grundlage für so manchen Witz auf Stammtisch-Niveau und (verklärter) Inhalt von vielen Filmen aus den Siebzigern, in denen vor allem Frauen gerne als nymphoman dargestellt wurden. Die sogenannte Hypersexualität, wie das gesteigerte Verlangen nach sexuellen Handlungen genannt wird ist aber ein ernsthaftes Krankheitsbild, das wie jede andere Sucht auch ernsthafte Konsequenzen auf das Leben des Betroffenen hat.
Dabei ist wie auch bei Alkohol oder anderen Substanzen die Grenze zwischen Genuss und Abhängigkeit oft fließend und die Erkenntnis an einer Sucht zu leiden wohl der wichtigste Schritt des Betroffenen. Bis es zu dieser Erkenntnis kommt ist Männlein oder Weiblein aber wohl bereits an einem Punkt angekommen, an dem bereits ein jahrelanges Verdecken der Sucht stattgefunden hat und wo es ohne ärztliche Hilfe und entsprechender Therapie gar nicht mehr möglich ist, diese zwanghafte Handeln zu durchbrechen.
Der 2011 entstandene Streifen „Shame“ greift diese immer aktueller werdende Thematik auf und portraitiert das Leben eines Sex-Süchtigen, der seine tägliche Routine bereits voll und ganz auf seine Sucht eingestellt hat. Vom morgendlichen Onanieren, über das Cruisen auf dem Weg von und zur Arbeit bis hin zu dem schon obligatorischen Besuch bei Prostituierten, bei denen er emotionslos sein Sexprogramm herunterspult, hat der Yuppie Brandon auch keine Highlights in seinem Leben und auch keinen Menschen, dem er sich anvertrauen kann.
Doch das ändert sich schlagartig, als eines Tages seine hochemotionale Schwester Sissi auftaucht und das immer nach gleichem Schema ablaufende Tagesprogramm durcheinanderbringt. Deren offenkundiger Suche nach Zuneigung und Aufmerksamkeit steht der gefühlstechnisch verkümmerte Mann hilflos gegenüber und sein Leben scheint ihm endgültig zu entgleiten, als er nicht mehr im gewohnten Umfang seinem gesteigerten Sexualtrieb nachkommen kann.
Das Psychogramm einer getriebenen Seele wird dabei fragmentarisch und in wunderbaren, teils etwas unterkühlten Bildern erzählt, die mit jeder weiteren Minute dramatischer wird. In Zeiten des stetig steigenden Leistungsdrucks in der Gefühle als Schwäche ausgelegt werden ist es wenig verwunderlich, dass sich offensichtlich viele in irgendeiner Form mit der Figur des Brandon identifizieren können und Steve McQueen braucht auch keine Einleitung oder großartige Dialoge um dem Zuschauer einen Einblick in das zerrüttete Seelenleben seines Protagonisten zu ermöglichen.
Der englische Regisseur Steve McQueen (nicht verwandt oder verschwägert mit dem gleichnamigen Schauspieler) hat bereits mit dem Vorgänger „Hunger“ die Kritik aufhorchen lassen und präsentiert abermals teils sehr lange Einstellungen, wobei hier vor allem die Szene im Jazz-Club und der nächtliche Lauf durch New York hervorzuheben sind. Die Thematik verlangt natürlich auch eine entsprechend freizügige Darstellung, die jedoch nicht wirklich erotisch wirkt, sondern bisweilen sogar den gegenteiligen Effekt auf den Zuschauer hat.
Besonders beeindruckend ist auch die schauspielerische Leistung von Michael Fassbender („Prometheus – Dunkle Zeichen“), der zwar bisher nicht zu meinen Lieblingen gezählt hat, hier aber eine grandiose Darstellung abliefert. Ohne Scheu und Rücksicht auf etwaige Verluste haucht er der Figur Leben ein und wandelt sich vom scheinbar zurückhaltenden und analytisch-denkenden Yuppie zur Hormon-getriebenen Bestie, dass einem wirklich der Atem stockt. Der Preis für die beste Darstellung bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig ist angesichts seiner Leistung jedenfalls mehr als gerechtfertigt.
Die Blu Ray-Disc aus dem Hause Prokino kommt ungekürzt mit einer FSK16-Freigabe und bringt den Streifen auch in perfekter Bildqualität, in der die unterkühlten und stylishen Bilder auch sehr zu Geltung kommen. Neben deutscher Synchro gibt es natürlich auch die englische Originalfassung samt optionaler Untertitel in Deutsch und Englisch. Abgerundet wird das positive Gesamtbild mit zwei Featurettes in denen Regisseur, Cast und Crew zu Wort kommen.
Unterm Strich ist „Shame“ nach „Drive“ bereits die zweite große Überraschung des heurigen Jahres. Mutiges Arthouse-Kino, das weder verkopft noch sperrig daherkommt, sondern auf unsentimentale Weise ein schwieriges (Tabu-)Thema behandelt, dieses in wunderbare und fast schon hypnotische Bilder verpackt und trotz Dramatik auch absolut faszinierend ausgefallen ist. Auch wenn „Shame“ verständlicherweise nicht bei allen Leuten gut ankommt, so ist der Streifen schon aufgrund der sensationellen Leistung von Michael Fassbender absolut sehenswert und wird am Ende des Jahres auch unter Garantie in den oberen Rängen der Jahresfilmcharts zu finden sein.
Offline
Das mit der Presse-DVD ging leider gar nicht, also hab ich mir am Wochenende die BR gekauft. Der Film ist aber auch sehr gut und Fassbender eine Wucht. Von der BR kann ich aber leider keine Bilder machen, ich hoff, du hast da Pressematerial...
Offline
@ Jochen,
vielen Dank fürs Review, ist nun auch schon Online: http://chilidog.project-equinox.de/?page_id=8917
Offline