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Der lebensfrohe, dafür aber auch etwas naive Candide (Christopher Brown) lebt auf einem großen Schloss und streift am liebsten den ganzen Tag singend und tanzend durch die Gegend, kümmert sich rührend um Mensch und Tier und frönt mit dem Lehrer Pangloss (Jacques Herlin) der Philosophie. Als er jedoch eines Tages Kunigunde (Michelle Miller), der liebreizenden Tochter des Schlossbesitzers, in die er sich verliebt hat, körperlich zu nahe kommt, wird er mit Schimpf und Schande aus dem paradiesischen Ort verjagt und trifft wenig später auf kriegerische Soldaten. Doch der pazifistische Candide will nicht in den Krieg ziehen, sondern seine geliebte Kunigunde wiederfinden und mit ihr glücklich bis an sein Lebensende zusammenleben.
Doch dieser Wunsch bleibt dem blonden Jüngling verwehrt und Candide erfährt von den siegreichen Kriegstreibern, dass sein einstiges Heim überfallen und Kunigunde vergewaltigt und verschleppt worden ist. Candide begibt sich auf die Spuren seiner Liebsten und
befreit sich und seinen Diener aus dem Armen der Inquisitoren und begibt sich fortan auf eine abenteuerliche Reise durch Raum und Zeit, die den optimistischen Jüngling an die seltsamsten Orte dieser Erde befördert und ihn auch immer wieder mit einstigen Gefährten konfrontiert. Doch Kunigunde bleibt wie ein Schatten und als er ihr schlussendlich gegenübersteht, ist die einstige Schönheit bereits verblüht…
Hört man die Namen des italienischen Regie-Duos Gualtiero Jacopetti und Franco Prosperi, so denkt der aufgeschlossene Filmfreund wohl als allererstes an deren Werke aus der Mondo-Kiste, dessen Genre von den Beiden im Jahre 1962 mit dem erfolgreichen Streifen „Mondo Cane“ begründet wurde. Dieser Zusammenschnitt aus teils unterhaltsamen, teils befremdlichen und schockierenden Begebenheiten und Ritualen aus aller Welt und seine drei Nachfolger unter den Titeln „Alle Frauen dieser Welt“ (1963), „Africa Addio (1966) und „Addio, Onkel Tom!“ (1971) waren nicht nur sehr erfolgreich, sondern brachten den beiden kontroversen Filmemachern auch viel Häme und zahlreiche Rassismus- und sonstige Vorwürfe ein.
Bei dem 1975 entstandenen Streifen „Mondo Candido“ handelt es sich wider Erwarten jedoch um keinen Dokumentar-Film im eigentlichen Sinne, sondern um eine doch sehr außergewöhnliche Adaption und freie Interpretation des Romans „Candide oder der Optimismus“, den der französische Philosoph Voltaire im Jahr 1759 veröffentlichte. In dem überspitzten Roman richtete sich der Schriftsteller vor allem gegen die Realitätsverweigerung und die zu optimistische Weltanschauung der französischen Obrigkeit und konfrontiert seine einfach gestrickte Hauptfigur des Romans auf der Suche nach seiner großen Liebe mit allerlei Schicksalsschlägen, Kriegen und Naturkatastrophen, die auch die optimistische Lebenseinstellung hart auf die Probe stellen. Und so wird die Romanfigur Candide im Verlauf seiner Reisen zunehmen kritischer und verbleibt am Ende mit der Erkenntnis, dass man das Übel der Welt nicht erklären kann.
Auch in „Mondo Candido“ erlebt der naive und lebensfrohe Candide nach der Vertreibung aus dem Paradies bzw. Schloss allerlei seltsame Abenteuer und seine Reise bringt ihn und seinen treuen Gefährten aus einem historischen Kontext heraus an neuzeitliche Kriegsschauplätze in Irland und Israel und sogar bis nach New York, wo eifrig dem Konsum gefrönt wird. Die ganze Szenerie ist dabei stets vollgepackt mit Anspielungen auf die diversesten Dinge und reflektiert dabei auch mit seiner grotesken und traumartigen Szenerien die Sicht der beiden Regisseure auf die moderne Gesellschaft und deren Bestreben, sich zunehmend selbst zu zerstören.
Als Fan von italienischen Werken aus den Siebzigern ist man ja ohnehin einiges gewöhnt, aber „Mondo Candido“ toppt nahezu alles und ist wirklich ein einziger, absurder Trip, der auch wenig Rücksicht auf Genre-Konventionen oder etwaige Sehgewohnheiten nimmt. Vollgepackt mit Symbolik und Anspielungen auf gesellschaftliche und politische Tendenzen der damaligen Zeit, sorgt der Streifen auch reihenweise für offene Münder und andauerndes Erstaunen. Die Fülle an Ideen scheint fast unerschöpflich und irgendwie wirkt der Streifen dann auch so, als hätte Stanley Kubrik gemeinsam mit Terry Gilliam und Alejandro Jodorowsky den „Zauberer von Oz“ neu verfilmt. „Mondo Candido“ ist wirklich ein Fest für die Sinne, bei dem jedes Bild bis ins kleinste Detail perfekt gestaltet wurde und der mit seiner ungewöhnlichen Geschichte Diskussionsstoff für Wochen bietet.
Sogar der deutsche Titel „Blutiges Märchen“ wirkt in diesem Zusammenhang sehr passend und beschreibt die ungewöhnlichen Reisen des jungen Candide an die verschiedensten Schauplätze der Welt auch sehr treffend. Was wie ein weichgezeichnetes DDR-Märchen beginnt, kippt alsbald in kriegerisches Gemetzel und dramatische Gefilde, welche teils auch sehr surreal umgesetzt wurden. Und wenn man glaubt, dass der Film seinen Höhepunkt erreicht hat, setzen die beiden Regisseure immer noch einen drauf und auch die bewusst oft sehr konträr zum Geschehen eingesetzte und sehr eingängige Musik von Riz Ortolani verfehlt seine Wirkung nicht.
Bei den Darstellern gibt es auch nix zu meckern, auch wenn mir die beiden Hauptdarsteller Christopher Brown und Michelle Miller danach keine nennenswerten Filme mehr gedreht haben. Beide machen ihre Sache jedoch sehr gut und Christopher Brown verkörpert die Rolle des naiven, aber herzensguten Candide auch mit voller Inbrunst. Herr Brown wandte sich danach eher den TV-Produktionen zu, während Frau Miller sporadisch noch in einschlägigen Filmen wie „Blood Feast II“ zu sehen war. In den Nebenrollen gibt es hingegen zahlreiche bekannte Gesichter zu entdecken. Den französischen Schauspieler Jacques Herlin kennt man ja ohnehin aus zahlreichen Werken aus der Italo-Kiste und sogar Salvatore Baccaro, der sympathische Herr mit dem etwas seltsamen Aussehen ist in einer kleinen Rolle zu sehen.
Die DVD aus dem Hause Camera Obscura ist wie immer von A bis Z absolut liebevoll ausgefallen und bietet neben dem Hauptfilm in deutscher Synchronisation und italienischer Originalfassung auch noch englische und deutsche Untertitel, sowie einen gewohnt unterhaltsamen Audiokommentar der beiden Filmgelehrten Christian Keßler und Marcus Stiglegger. Die zweite Disk ist ebenfalls rappelvoll mit interessantem Bonusmaterial zum Film, das keine Wünsche offenlässt und die Karrieren von Franco Prosperi und Gualtiero Jacopetti, das Mondo-Genre und auch die Umsetzung der literarischen Vorlage näher beleuchtet. Abgerundet wird das mehr als positive Gesamtbild dann noch mit den Eindrücken von Make-Up-Artist Pier Antonio Macacci, dem Trailer und einem mehrseitigen Booklet.
Unterm Strich ist „Mondo Candido“ nicht nur ein absolut ungewöhnlicher Film und meine bislang schönste Neu-Entdeckung des Jahres, sondern schlicht und ergreifend die wohl wichtigste und auch schönste Veröffentlichung des heurigen Jahres für das italophile und cineastisch-aufgeschlossene Publikum. Hier kommt einfach alles zusammen, was die Streifen dieser Zeit so außergewöhnlich macht und selbst wer bislang aus verschiedensten Gründen zu den umstrittenen Mondo-Werken von Prosperi und Jacopetti keinen Zugang finden wollte, kommt um deren skurrile Verfilmung des Romans von Voltaire wohl nicht herum. Dieser Streifen ist schlichtweg ein Fest für die Sinne, so ungewöhnlich wie originell und bietet 107 Minuten Filmvergnügen der absolut unvergleichlichen Sorte.
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@ Jochen,
vielen Dank fürs Review, ist nun auch schon Online: http://chilidog.project-equinox.de/inde … ge_id=7926
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