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Der dreizehnjährige Bruno zieht nach dem Tod seiner Oma mit seinem kleinen Vogel nach Paris zu seiner Mutter, die jedoch rund um die Uhr arbeitet und mit ihrem Jungen nur über Notizzettel an der Pinwand kommuniziert. Bei seiner Ankunft in dem riesigen Sozialbau trifft er in den unendlichen Stiegenhäusern auf den Jungen Jean-Roger, der gerade dabei ist, die Fußmatten seiner Nachbarn anzuzünden. Als ihn der Hausmeister erwischt und vor seinen Eltern zur Rede stellen möchte, wird dieser kurzerhand von Jean-Rogers Vater bewusstlos geschlagen. Bruno nimmt das scheinbar teilnahmslos zur Kenntnis und macht es sich mit seinem Vogel namens „Supermann“ in der mütterlichen Wohnung gemütlich.
Am nächsten Tag wird er vom Direktor seiner neuen Schule herumgeführt und landet in einer Klasse mit Problemschülern, in der er auch wieder auf Jean-Roger trifft. Während die jungendliche Lehrerin versucht, den Schülern Wissen zu vermitteln, sind diese meist gar nicht an dem Unterricht interessiert und vor allem Jean-Roger stört lautstark die Vorträge der jungen Lehrerin. Am Nachmittag wird Bruno Zeuge, wie Jean-Roger gerade ein Moped klaut und wird von diesem wenig später in die elterliche Wohnung mitgenommen, die vom gestrengen und asozialen Vater dominiert wird, der gerade Schießübungen durchführt. Die beiden Jungen vertreiben sich die Zeit, welches meistens darauf hinausläuft, dass Jean-Roger seine Nachbarschaft terrorisiert und die Gang beobachtet, die das Viertel unter Kontrolle hat.
Doch der etwas verträumte, ungeliebte und vereinsamte Bruno ist gar nicht so interessiert an der asozialen und gewalttätigen Welt des auffälligen Jean-Roger und findet in der jungen Lehrerin überraschend eine Vertraute. Nach der Unterrichtszeit gibt diese dem Jungen Förderunterricht und schafft es, den sensiblen Jungen für den Unterrichtsstoff zu begeistern. Jean-Roger versucht das gute Verhältnis zu sabotieren und vernadert die junge Lehrkraft in einem anonymen Brief. Als er sich auch noch um die Aufnahme in die Gang bemüht um damit seinen älteren Bruder auszustechen, der in der Gunst des gemeinsamen Vaters seiner Meinung nach besser dasteht, steuert alles auf eine Katastrophe zu....
Jugendgewalt bzw. Gewalt von jugendlichen Gangs mit und ohne Migrations-Hintergrund ist in Frankreich seit Jahren ein sehr umstrittenes Thema, der Politik und Polizei scheinbar nahezu machtlos gegenüberstehen. Immer wieder hört und liest man von gewaltbereiten Jugendlichen in sozialen Brennpunkten und Vorstädten, die auf ihre Art gegen das System, Gesetzgebung und Sozialabbau demonstrieren, dabei auch über ihr Ziel hinausschießen und sich regelrechte Straßenschlachten mit den Ordnungsgewalten liefern. Und erst im Jahre 2005/2006 gab es kriegsähnliche Zustände, nachdem zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei ums Leben kamen. Wochenlang waren die Medien voll von Berichten über Problemjugendliche und die Politik, die in dieser Sache hart durchgreifen wollte.
Doch auch wenn es um das Thema mittlerweile etwas ruhiger geworden ist, heißt das aber nicht, dass die zahlreichen Probleme auch tatsächlich gelöst wurden. Wie kontrovers das Thema noch immer ist, mussten auch die französischen Elektroniker von „Justice“ erfahren, die im Jahre 2008 im Video zu ihrer Single „Stress“ über sechs Minuten lang eine Jugendgang bei einem Streifzug durch Paris eine Orgie die Gewalt abfackeln und eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Das Geschrei nach Verbot war groß und „Gewaltverherrlichung“ stand im Raum, während im Internet eifrig der Clip geklickt wurde . Aber auch wenn es sich dabei wohl um einen geschickten Marketing-Schachzung handelte, so zeigt es doch, wie sensibel die französische Bevölkerung mittlerweile auf dieses Thema reagiert.
Ende der Achtziger war das laut Aussage von Regisseur Jean-Claude Brisseau aber noch komplett anders und wer es in der Öffentlichkeit wagte, die Probleme in sozialen Brennpunkten anzusprechen wurde entweder in die rechte Ecke von Politikern wie LePen gedrängt, oder gleich gar nicht ernst genommen. Doch der französische Regisseur und Provokateur Brisseau („Heimliche Spiele“) war einst selbst Lehrer an einer französischen Schule und hat in dem kontroversen Streifen „Lärm & Wut“ seine Erfahrungen mit jugendlichen Gewalttätern und dessen soziales Umfeld zu einem Streifen verarbeitet, der bei seinem Erscheinen einen Skandal auslöste und auch über zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen nichts von seiner Sprengkraft eingebüsst hat.
In „Lärm & Wut“ geht es neben dem dreizehnjährigen Bruno, der nach dem Tod seiner Großmutter von einer sozialen Einrichtung in die Wohnung seiner Mutter in einen Vorort von Paris zieht, vor allem um den verhaltensauffälligen Jungen Jean-Roger, der aufgestachelt von seinem asozialen Vater seine Grenzen austestet und dabei von niemanden aufgehalten wird. Und so verstrickt sich der Junge, der sich im Vergleich zu seinem älteren Bruder immer zurückgesetzt fühlt und ständig eine Waffe mit sich führt auch immer mehr in einem Netz aus Kriminalität und Gewalt. Den vereinsamten Bruno nimmt er sich als Freund, da dieser „schwächer“ ist und zu ihm aufblickt und stiftet dieses zu kriminellen Handlungen an. Als dieser jedoch in der Lehrerin eine Vertrauensperson findet, die ihm bislang in seinem Leben gefehlt hat, reagiert Jean-Roger mit Neid und versucht das Verhältnis zu zerstören.
Der Streifen aus dem Jahre 1988 ist dabei immer wieder von surrealistischen Momenten durchbrochen, in dem Bruno eine engelsgleiche Frau mit Adler erscheint, die ihn auf seinem Weg zu begleiten scheint. Abseits dieser traum-artigen Szenen reagiert aber Gewalt und Trostlosigkeit in einem Ausmaß, die die Grenzen des Erträglichen trotz überspitzer und zynischer Momente oftmals überschreitet. Obwohl der Streifen in Cannes auch mit einem Förderpreis prämiert wurde, so gab es im Umfeld des Werks doch heftige Kontroversen, was dazu führt, dass der Film mit dem von Shakespeare entlehnten Titel „De bruit et de fureur“ auch zu einem kommerziellen Erfolg wurde.
Dennoch ist der Regisseur nicht unumstritten und bei der Sichtung von „Lärm und Wut“ ist auch der Vorwurf von Populismus nicht ganz von der Hand zu weisen, vor allem, wenn man im beigelieferten Interview erfährt, dass die Story eigentlich aus einer Trotzreaktion aufgrund von Anfeindungen entstanden ist. Und auch wenn Brisseau im Interview erwähnt, dass er eher unter- als übertrieben hat, so wirkt doch manche Szene mit dem Vater von Jean-Roger sehr überspitzt dargestellt, sodass sich der Zuschauer einreden kann, dass dieses so doch niemals in der Realität abspielen könnte.
Woran es aber gar nichts zu meckern gibt, ist die Bildsprache, der sich Jean-Claude Brisseau bedient. Abgesehen von den surrealistischen Momenten ist alles trist und trostlos und dieses wurde sehr gut eingefangen. Die Emotions- und Ausweglosigkeit der Charaktere ist sehr gut eingefangen und überträgt sich auch auf dem Zuseher, dem in dem Streifen auch nahezu keine Lösungsansätze geboten werden. Und so ist „Lärm & Wut“ auch ein schmerzhafter „Coming-of-Age“-Streifen, bei dem sich die dargestellten Personen immer mehr selbst ins soziale Abseits manövrieren. Ein Abseits, dass schlussendlich im Finale des Streifens in einer Nacht und Origie der Gewalt gipfelt, die aufgrund ihrer Schonungslosigkeit schwer verdaulich ist.
Und wie könnte es anders sein, kommt dieser Klassiker des französischen Kinos von dem ambitionierten Label Bildstörung, die „Lärm & Wut“ als „Drop-Out 010“ in ihren rundum empfehlenswerten Katalog aufgenommen haben. Die Bildqualität ist sehr gut und wie üblich bekommt man von einer schönen Verpackung, über informatives Booklet bis hin zum interessanten Bonusmaterial so ziemlich alles geliefert, was man sich als cineastisch-aufgeschlossener Endverbraucher so wünschen kann. Und so gibt es neben dem Hauptfilm auch noch ein Interview mit dem Regisseur, Kommentare zur Eröffnungsszene, ein Making-Of, sowie den Trailer zum Film. Leider hat sich beim Interview jedoch ein kleiner Fehlerteufel bei den deutschen Untertiteln eingeschlichen, die leider nicht mit dem Gesagten übereinstimmen (was mir Schussel jedoch mangels Sprachkenntnisse erst Minuten später aufgefallen ist). Eine korrigierte Datei kann man sich jedoch unter dem Link http://group-of-pictures.com/ftp/interview_brisseau.zip herunterladen.
Unterm Strich bleibt ein kontroverses und verstörendes Werk über Jugendkriminalität, dass auch knapp 20 Jahre nach Erscheinen nichts von seiner emotionalen Sprengkraft verloren hat und über weite Teile auch nur schwer erträglich ist. Ein schonungsloser Einblick in die Welt sozialer Brennpunkte, in denen Jugendliche aufgrund der Hilf- und Teilnahmslosigkeit ihrer Eltern ohne positive Identifikationsfiguren heranwachsen müssen und die Gewalt, die sie umgibt auch unreflektiert nachahmen. Ein Thema, dass leider heute aktueller denn je ist und von Regisseur Broisseau lediglich mit surrealistischen Momenten erträglicher gemacht wurde. „Lärm & Wut“ schockiert und verstört den Zuschauer und ist dennoch uneingeschränkt empfehlenswert.
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@ Jochen,
vielen Dank fürs Review, ist nun auch schon Online: http://chilidog.project-equinox.de/inde … ge_id=7460
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