project: equinoX - Das deutschsprachige DVD und Film Projekt im Internet
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Unmittelbar nach dem Mauerfall beschließt die Ostdeutsche Clara (Karina Fallenstein) ihren Ehemann zu killen um danach mit ihren Liebhaber Arthur (Arthur Albrecht) im goldenen Westen ein neues Leben zu beginnen. Als sie an der Grenze auf eine Handvoll Ewiggestriger trifft, die sie am Grenzübertritt hindern wollen, gibt sie Vollgas um in ein besseres Leben zu flüchten. Doch die Ankunft im Westen entpuppt sich anders als geplant, da der Überfluss an Konsum und Möglichkeiten ihren Liebhaber binnen kürzester Zeit seltsam verändert hat. Anstatt dem romantischen Wiedersehen geht Arthur seiner Clara kurzerhand an die Wäsche. Doch schon wenig später eskaliert die Situation und die Beiden von einer degenerierten Gestalt angegriffen, die Arthur mit einem Stein außer Gefecht setzt.
Clara ist angesichts der Geschehnisse schockiert und versucht in Panik in einem nahen Motel die Polizei zu informieren. Doch auch dort sind die Menschen nicht so gastfreundlich, wie es Clara eigentlich erwartet hätte. Brigitte (Brigitte Kausch) besteht auf die Einhaltung der Hausregeln und die lesbische Margit (Susanne Bredehöft) macht sich sogleich an die junge Ostdeutsche heran. Doch die wahre Bedrohung ist Alfred (Alfred Edel), der seinen Vater in mumifizierter Form vor den anderen Familienmitgliedern versteckt hält und die ostdeutschen Ankömmlinge gemeinsam mit seinem Bruder Dietrich (Dietrich Kulhbrodt) zu Wurstwaren verarbeitet. Und während Clara und der schwerverletze Arthur um ihr Leben kämpfen, gibt es auch innerhalb der Familie schwellende Konflikte und alles steuert einem blutigen und unfassbaren Finale entgegen…
In der Nacht von 09. Auf 10. Oktober 1989 wurde die Berliner Mauer 28 Jahre nach ihrer Erbauung niedergerissen und der Westen mit dem Osten wiedervereint. Um 21:15 passierte die erste Ostdeutsche die geöffnete Grenze und zehntausende Menschen folgten noch in derselben Nacht. Doch dieser Moment der Wiedervereinigung in denen Trabi-fahrende Ostdeutsche mit exotischen Früchten wedelt in Westdeutschland auf ein besseres Leben hofften, löste bei einigen Menschen doch seltsame Befindlichkeiten aus und auch Enfant-terrible Christoph Schlingensief war von den damaligen Fernsehbildern seltsam berührt, sodass er sich in Anlehnung an Tobe Hoopers Kult-Horrorschocker „The Texas Chainsaw Massacre“ veranlasst fühlte, diese Begebenheiten künstlerisch aufzuarbeiten.
Das Drehbuch war binnen zwei Wochen verfasst und so entstand schon wenige Zeit später mit den Förderungsgeldern, die eigentlich für ein anderes Projekt erhalten wurden, Schlingensiefs wohl bekanntester Streifen „Das deutsche Kettensägenmassaker“. In dem provokanten Film werden Menschen von ostdeutscher Herkunft von westdeutschen Psychopathen gejagt und danach zu Wurst verarbeitet. Die vermeintlich bessere Welt entpuppt sich also als Alptraum und die westliche Kultur ist für unbedarfte und auf den Kapitalismus vollkommen unvorbereitete Menschen aus dem Osten ein tödliches und vor allem sehr zweifelhaftes Vergnügen. Und wer Schlingensief und seine Werke kennt, der weiß natürlich auch, dass Humor und Provokation an erster Stelle stehen, während sich die tiefergehende Wahrheit nicht auf den ersten Blick entdecken lässt.
In dem Interview-Film „Christoph Schlingensief und seine Filme“ sagt dieser in einer Szene sinngemäß, dass er bei dem Versuch eine Idee dem Publikum schlüssig rüberzubringen immer gescheitert sei und seine ambitionierten Versuche etwas klar anzustreben weder für den Regisseur noch für die Zuschauer befriedigend waren. Sprich: wer seine Ideen zu einfach an das Publikum rüberbringen muss, ist entweder langweilig oder scheitert. Daher hat Schlingensief wie schon bei seinen anderen (Kurz-)Filmen gar nicht erst versucht, eine herkömmliche Geschichte zu erzählen, sondern montiert ist bester Terror-Manier eine provokante Sequenz an die nächste, die natürlich dazu gedacht sind, tiefdeutsche Befindlichkeiten in ihren Grundfesten zu erschüttern und ein bisschen im deutschen Nationalstolz im sticheln.
„Das deutsche Kettensägenmassaker“ ist ja dann auch ein satirischer Low-Budget-Horrorspaß, der natürlich kompletter Trash mit künstlerischem Anspruch ist und bei seinem Erscheinen auch ziemlich viel Aufsehen erregt hat und wieder einmal die altbekannte Diskussion darüber entfachte, wie weit Kunst eigentlich gehen darf. Der Streifen wurde jedoch vom Publikum gut angenommen und lief im November 1994 sogar im österreichischen Fernsehen im Rahmen der sogenannten „Kunststücke“, was seinerzeit auch meine erste und durchaus eindrucksvolle Begegnung mit dem deutschen Regisseur und Künstler Christoph Schlingensief war. Ich weiß ja nicht mehr so genau, wie mir der Streifen in jungen Jahren gefallen hat, aber beeindruckt war ich auf jeden Fall und auch heute mit entsprechender Filmerfahrung weiß dieses polarisierende und hundsgemeine Stück von einem Film mir auch immer noch zu gefallen.
Zugegeben, leichte Kost oder auch der oftmals fälschlicherweise dem Splatter-Genre zugeordnete Streifen ist „das deutsche Kettensägenmassaker“ ja nicht wirklich geworden und die Freunde aus der Horrorecke werden an dem knapp einstündigen Film auch keine große Freude haben, was sich auch teilweise in den desaströsen Bewertungen auf der OFDB bemerkbar macht. Herkömmlichen Filmfreunden ist das 1990 entstandene Werk dann auch nicht wirklich zu empfehlen. Wer aber weiß, worauf er sich einlässt, wird bei der künstlerischen Aufarbeitung der Wiedervereinigung von einem Mann, der jahrelang im Rahmen von Kunstprojekten entlarvende Aktionen zum Thema Fremdenhass, Nationalstolz und vermeintliche Toleranz gestaltet hat, wohl kaum enttäuscht werden.
Der Film ist inhaltlich an „The Texas Chainsaw Massacre“ angelehnt und interpretiert die zweite Hälfte des Filmes, in den im Original die letzte Überlebende einer Truppe von jungen Menschen einer vollkommen degenerierten Familie von Schlächtern in die Hände fällt. Genauso unbestreitbar ist jedoch auch der Einfluss von Alfred Hitchcocks „Psycho“ in dem Norman Bates mit seiner bereits mumifizierten Mutter Zwiegespräche hält. Aber auch Themen wie die noch immer nicht zur Gänze aufgearbeitete nationalsozialistische Vergangenheit werden in dem Film, der an aktionistisches Experimental-Theater erinnert, behandelt. Herausgekommen ist ein bizarrer Low-Budget-Streifen, der voller seltsamer Szenen und noch seltsamer Figuren ist, die auf den ersten Blick dann auch hochgradig verstörend, aber imho auch auf unerklärliche Weise unterhaltsam und faszinierend daherkommen.
Bei den Darsteller in „Das deutsche Kettensägenmassaker“ hat Schlingensief größtenteils auf Schauspieler zurückgegriffen, die bereits in „100 Jahre Hitler – die letzte Stunde im Führungsbunker2 mitgewirkt hatten. Udo Kier, den Schlingensief gemeinsam mit Tilda Swinton eher zufällig kennenlernte und der in einigen seinen Werken mitwirkte, spielt hier vollkommen außer sich die Rolle des USA-Heimkehrers Jonny, der sich selbst verstümmelt und auch seine Lockenkopf-Perücke in Brand setzt und wohl für die erinnerungswürdigsten Momente sorgt. Ihm zur Seite steht Karina Fallenstein, die bereits mit „die Insel der blutigen Plantage“ von Regisseur Kurt Raab deutsche Exploitation-Luft schnuppern durfte. Auch bei den anderen Darstellern kann man das ein oder andere bekannte Gesicht erkennen und alle spielen sich förmlich die Seele aus dem Leib und haben bei Schlingensiefs Terror-Reigen sichtlich Spaß.
„Das deutsche Kettensägenmassaker – die erste Stunde der Wiedervereinigung“ gibt es ja eigentlich schon seit dem Jahre 2004 auf DVD. Zum zwanzigjährigen Jubiläum spendiert uns das Label „Filmgalerie 451“ nun aber eine besondere schöne Edition, die den Film angesichts der Produktionsumstände in sehr guter Bild- und Tonqualität präsentiert und als besonderes Zuckerl auch noch eine ausführliche und sehr informative Film-Doku namens „Christoph Schlingensief und seine Filme“, in dem der Regisseur sehr ausführlich über seine zahlreichen Filme referiert und in dem der verstorbene Künstler auch die ein- oder andere Anekdote zum Besten gibt. Für Fans gibt’s es dann auch noch Outtakes und unverwendete Szenen und den Trailer.
Unterm Strich ist „das deutsche Kettensägenmassker“ wohl das bekannteste Werk des verstorbenen Regisseurs und bietet sechzig Minuten trashige Underground-Unterhaltung der besten Sorte. Die Tragödie, dass Ossis vom westdeutschen Kapitalismus verschlungen werden, wurde wohl seitdem nie mehr so effektiv in Szene gesetzt. Ein Streifen der auch zwanzig Jahre nach Entstehung wenig von seiner Sprengkraft verloren hat und skurrile Momente und beißende Sozialkritik mit Blut und Beuschel kombiniert. Wer sich auf Schlingensief einlässt muss aber wissen, was ihn erwartet und für Mainstreamer ist das unkonventionelle und schwarzhumorige Werk als künstlerischer Anschlag auf herkömmliche Sehgewohnheiten wohl ohnehin nicht geeignet. 8/10 Punkten
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@ Jochen,
vielen Dank fürs Review - ist nun auch schon Online: http://chilidog.project-equinox.de/?page_id=7105
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