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Am Abend des 18. November 1978 bespricht der amerikanische Politiker Harvey Milk zu später Stunde in seiner Wohnung ein Tonband. Ein Band, auf das er seine turbulente Lebensgeschichte und die wichtigsten Stationen seiner politische Karriere spricht. Neun Tage später verkündet Dianne Feinstein die Vorsitzende des Stadtrats von San Francisco, das Harvey Milk, sowie der amtierende Bürgermeister der Stadt von einem Mann angeschossen wurden und ihren Verletzungen erlegen sind. Noch in der selben Nacht versammeln sich Zehntausende Menschen in dem Viertel Castro und ziehen im einem schweigenden Lichtermeer zum Rathaus der Stadt. Milk war der erste offen schwul-lebende Politiker, der von der Bevölkerung in ein politisches Amt gewählt wurde. Gus van Sant zeichnet in seinem mehrfach Oscar-prämierten Werk das Schaffen des charismatischen Bürgerrechtlers und Politikers in der Zeit von 1970 bis zu seinem gewaltsamen Tod am 27. November 1978.
“I have never considered myself a candidate. I have always considered myself part of a movement, part of a candidacy. I considered the movement the candidate.” (Harvey Milk)
Am Vorabend zu seinem 40. Geburtstag trifft der Versicherungsangestellte Harvey Milk (Sean Penn) in einer New Yorker U-Bahn auf Scott (James Franco) und verliebt sich in ihn. Zwei Jahre später ziehen die beiden in das irisch-katholische Arbeiterviertel Castro in San Francisco und eröffnen dort einen kleinen, alternativen Fotoladen. Schon zu Beginn stoßen die beiden Homosexuellen auf allerlei Vorurteile und Ablehnung. Doch Milk ist vom Geist der Hippie-Bewegung ergriffen und nicht bereit, seine Liebe zu seinem Partner zu verstecken und vor der Polizei, Gewerbevereinen und katholischen Bewegungen klein beizugeben. Und schon bald entwickelt sich der Laden von Harvey und Scott zu einem Treffpunkt der Homosexuellen. Zahlreiche Intellektuelle und Künstler sammeln sich tagtäglich in dem Laden und philosophieren tagtäglich über die schwierige Situation der Schwulen in Amerika, die von Polizeiwillkür und körperlichen Übergriffen geprägt ist. Schon bald wird aus dem Treffpunkt eine Bewegung und immer mehr Schwule bevölkern das aufstrebende und liberale Viertel.
Wenig später tritt erstmalig die Gewerkschaft an Harvey und seine Leute heran um gemeinsam bei dem Boykott der bekannten Biermarke Coors aufgrund deren untragbaren Arbeitsbedingungen durchzuführen. Harvey ist Feuer und Flamme und wenig später ist auch jegliches Coors aus den Lokalen des Castros verschwunden. Im Gegenzug fordert Harvey die Gewerkschaft dazu auf, ihn bei seiner Kandidatur zum Stadtrat zu unterstützten. Gemeinsam mit seinen Mitstreitern Cleve Jones (Emile Hirsch), Jim Ravaldo (Brandon Boyce) und dem jungen Fotografen Danny (Lucas Gabreel) versucht Milk , in das Amt eines Stadtrates gewählt zu werden. Doch als homosexueller Politiker ist das im Amerika der Siebziger Jahre natürlich alles andere als einfach und nur mit Schwulenrechten kann der charismatische Milk keine Wahl gewinnen. Und so spricht Milk weitere Themen in seinem Wahlkampf an. So verspricht er Minderheiten zu mehr Rechten und sich auch für ältere Mitbürger einzusetzen.
Doch die ersten politischen Erfolge haben für Harvey Milk private Konsequenzen. Sein langjähriger Partner Scott verlässt ihn nachdem Milk sein Versprechen gebrochen hat, keinen weiteren Wahlkampf durchzuführen. Doch der ist dringend notwendig, als religiös-konservative Gruppierungen reihenweise Antidiskriminierungsverordnungen mittels Volksabstimmungen kippen. Diese Unternehmungen gipfeln in der sogenannten „Proposition 6“-Gesetzes-Initiative, die vorsieht, das homosexuelle Lehrer, sowie deren Unterstützer aus dem kalifornischen Staatsdienst entlassen werden können. Durch seine neuen Wahlkampmanagerin Anne Kronenberg (Alison Pill) schafft es Harvey auch die Unterstützung von großen Tageszeitungen zu bekommen und wird 1977 als erster offen schwuler Politiker in ein politisches Amt gewählt. Doch Milk verliert keine Zeit und schafft mit Unterstützung des Bürgermeistern George Moscone (Victor Garber) weitere Antidiskriminierungsgesetze.
Während einer Schwulenparade tritt Harvey Milk trotz Morddrohungen auf, um mit einer flammenden Rede die Menschen aufzurütteln und gegen „Proposition 6“ zu mobilisieren. Doch privat muss Harvey einen weiteren Schicksalsschlag verkraften. Sein neuer Freund Jack Lira (Diego Luna) begeht in der gemeinsamen Wohnung Selbstmord, weil er sich von Harvey vernachlässigt fühlt. Doch zum Trauern bleibt Harvey keine Zeit, als die geplante Gesetzesinitiative, die einen tiefschürfenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der amerikanischen Bevölkerung bedeuten würde, entgegen Meinungsumfragen tatsächlich von der Bevölkerung abgelehnt wird – einen riesigen Erfolg für die Schwulenbewegung. Doch die politischen Erfolge bringen auch Neider und am Höhepunkt seines politischen Schaffens wird Harvey Milk Opfer eines heimtückischen Attentates durch einen ehemaligen Stadtrats-Kollegen Dan White. Noch in derselben Nacht versammeln sich Tausende Menschen im Castro-Viertel um seiner zu gedenken...
"If a bullet should enter my brain, let the bullet destroy every closet door." (Harvey Milk)
Das Leben der Homosexuellen bis zu den Anfängen der Siebziger Jahre war alles andere als einfach. Vielfach war das tägliche Leben geprägt von willkürlichen Festnahmen durch die Polizei und der von konservativer Seite geschürte Hass führte auch immer wieder zu körperlichen Übergriffen. Oft reichte auch der bloße Verdacht um seinen Job zu verlieren. Unterstützung durch die Politik war so gut wie überhaupt nicht zu erwarten und so lebten viele ihre Neigungen wenn überhaupt nur im Verborgenen aus. Doch Anfang der Siebziger waren die Schwulen nicht mehr bereit alle Repressalien hinzunehmen und begannen sich in größeren Städten wie San Francisco, New York und Los Angeles erstmalig zu organisieren und für Veränderungen einzutreten. Vor allem in San Francisco gab es durch den Geist der Hippie-Bewegung eine florierende Szene, die immer größer wurde. Und in dieser Zeit gab es auch die ersten Bestrebungen, politisch etwas zu verändern. Und es lag an Harvey Milk und seinen Mitstreitern, dass es erstmals in der Geschichte der Vereinigten Staaten einen offen schwul lebenden Politiker gab, der für seinesgleichen Rechte erstritt.
Gus van Sants „Milk“ ist aber nicht nur eine einfühlsame Biografie eines außergewöhnlichen Menschen, sondern gleichzeitig auch ein absolut interessantes Zeitdokument über das Lebensgefühl einer ganzen schwulen Generation in ihrer Aufbruchsstimmung und im Kampf für mehr Rechte und gegen menschenverachtende Gesetzgebung. Verknüpft sind diese Bilder dann mit Archiv-Bildern, Original-Fernsehberichten und Zeitungsausschnitten aus der damaligen Zeit. Dabei vermeidet das großartige und zu Recht Oscar prämiere Drehbuch Dustin Lance Black jegliche Wertung von beiden Seiten. So sind auch die heutzutage menschenverachtenden Bemerkungen des Ex-Werbestars Anita Bryant und den Befürwortern der Prop 6-Gesetzesvorlage ohne jegliche Wertung. Auch das ambivalente Wesen des späteren Doppelmörders Dan White, der zunehmend dazu übergeht den schwulen Politiker für seine eigene, sehr persönliche Misere verantwortlich zu machen ist sehr gut portraitiert. Andererseits wird auch der damalige, sehr offene Umgang mit Sexualität der Schwulen in der Zeit vor Aids ohne moralischen Zeigefinger präsentiert. Jedoch sollte niemand vergessen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass man als junger Schwuler studiert oder Lehrer wird und auch, dass man als Schwuler überhaupt Rechte besitzt. Das ist der Verdienst von so mutigen Leuten wie Harvey Milk, die sich nicht scheuten auf die Strasse zu gehen um auch für ihre Rechte zu kämpfen.
Der Film beginnt auch gleich mit einem Paukenschlag. Harvey Milk sitzt an einem Tisch und spricht seine Memoiren auf Band mit dem Hinweis, dass diese nach einem eventuell-gewaltsamen Tod dazu dienen sollen, sein Vermächtnis für die Nachwelt zu erhalten. Sekunden später erfährt der Zuseher anhand von Archivaufnahmen, dass der Ausnahmepolitiker seinen Verletzungen erlegen ist. Doch auch wenn man gleich zu Beginn erfährt, dass der Film einen tragischen Ausgang nehmen wird, so ist es Regisseur Gus van Sant und seinem kongenialen Drehbuchautor zu verdanken, dass der Film zu keiner Zeit zu dramatisch, zu einseitig, zu schwul oder zu politisch wird. Mit „Milk“ ist ein hervorragender und vor allem authentischer Film gelungen, der perfekt die Waage zwischen allen gegensätzlichen Polen behält und den Zuschauer auch auf die volle Länge von 122 Minuten interessiert bei der Stange hält. Und im Gegensatz zu anderen Filmen aus der Homokiste ist über die gesamte Laufzeit eine positive Tendenz zu spüren, der den Zuseher trotz tragischer Ereignisse zufrieden zurücklassen wird. Harvey Milk hat einen Kampf gegen scheinbar übermächtige Gegner begonnen, der noch lange nicht zu Ende gebracht ist und bei dem auch jeder Mensch auf diesem Planeten in irgendeiner Form gefordert ist.
Das Drehbuch zu „Milk“ entstand aufbauend auf dem 1985 entstandenen und ebenfalls mit dem Oscar ausgezeichneten Dokumentarfilm „the Times of Harvey Milk“ über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Dabei gelang es Dustin Lance Black auch zahlreiche Zeitzeugen für sein Projekt zu finden. Einer der ersten Partner war Cleve Jones, der damals als einer der engsten Vertrauten von Milk auch ständig an vorderster Front dabei war. Und auch wenn viele Personen aus dem Umfeld eher skeptisch waren, so kam die Sache langsam ins Laufen. Laut Aussage von Lance waren seine Bestrebungen ja auch nicht der erste Versuch, das Leben von Harvey Milk auf die große Leinwand zu bringen. Von Michael Wong bekam der Autor schlussendlich eine Kopie seines sehr persönlichen Tagebuchs, das wesentliche Informationen zur politischen Lage enthielt. Und aus zahlreichen Interviews mit seinen Mitstreitern, Archivberichten, Recherche an Originalschauplätzen und auch den Tonbandaufzeichnungen von Milk formte sich so langsam ein Drehbuch, das sowohl die private, als auch die politische Seite dieses Ausnahmepolitiker zeigt.
Das der Film natürlich so gut funktioniert ist neben der tollen Regie und der geschickten Verknüpfung von realen Dokumentations- und gedrehten Szenen natürlich an der grandiosen Leistung von Sean Penn, der vollkommen zu Recht für seine Leistung mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Penn spielt nicht nur seine Figur des sympathischen Bürgerrechtlers - er lebt sie förmlich. Alles andere als der Oscar wäre in diesem Fall auch die falsche Entscheidung gewesen. Aber auch die anderen Darsteller stehen im Grunde um wenig nach. Emile Hirsch als sein politischer Ziehsohn Cleve Jones überzeugt ebenso wie James Franco als Scott und Josh Brolin als einstiger Kollege und späterer politischer Feind des Bürgerrechtlers. Bis in die kleinste Nebenrolle ist „Milk“ absolut grandios besetzt und perfekt gemacht. Auch andere Kritikpunkte fallen mir jetzt gar nicht ein und wem beim stillen aber umso eindrucksvolleren Ende nicht sowieso das Wasser in den Augen steht, der ist wohl ohnehin zu keiner Gefühlsregung mehr im Stande.
„Milk“ ist lebendiger Geschichtsunterricht, wie er im Buche steht. Kraftvoll, energisch, emotional und trotz aller Rückschläge immer mit einem optimistischen Unterton. Das Portrait eines Aktivisten, der Zeit seines Lebens nicht für Toleranz, sondern für Akzeptanz gekämpft hat und schlussendlich sein Leben für seine Ideale lassen musste. Ein Schwuler, der für Schwule gekämpft hat und dessen Privatleben für seine Ziele in den letzten Jahren seines turbulenten Lebens zurückstecken musste. Harvey Milk ist eine Ikone der Schwulenbewegung und mit Gus van Sants Film bekommt der Bürgerrechtler endlich das Denkmal, das ihm schon lange zusteht. Von der Schrankschwester zum politischen Hoffnungsträger bis hin zur tragischen Figur einer gesamten Bewegung, die sich nicht mehr aufhalten lässt. Zu Recht mit Preisen überhäuft, zu Recht einer der wichtigsten Filme des neuen Millenniums. Ein wichtiger Beitrag in wirtschaftlich schlechten Zeiten, in denen die konservative und radikale Fronten wieder vermehrt Zulauf bekommen und anderen Bevölkerungsgruppen ihre Ideale aufzwingen wollen. Auch wenn es sich heutzutage im Westen als Schwuler in den Großstädten ganz gut leben lässt, der Kampf um die Gleichstellung aller L(i)ebenden auf aller Welt ist noch lange nicht beendet. Ein interessantes Zeitdokument, ein wichtiges Statement und ein perfekter Film, an dem es nichts auszusetzen gibt. Volle Punktezahl!!!
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@ Jochen,
Danke fürs Review!!! Ist nun auch schon Online: http://chilidog.project-equinox.de/?page_id=5468
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