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The Unknown

Der Film beginnt mit dem Matte Painting eines Zirkus, der von dicht aneinandergereihten Häuserfassaden umzingelt, sich als verschwenderisch prunkvoller Lichtschrein auf dem kleinen Platz einer Stadt erhebt. Eine Überblendung führt das Kameraauge direkt in die Arena zu Alonzo (Lon Chaney), dem armlosen Wunder, der als Höhepunkt seiner Performance mit den Füßen Messer nach der schönen Estrellita (Joan Crawford) wirft. Allabendlich richtet er das Gewehr auf den Körper der Crawford, um ihr die Kleider vom Leib zu schießen, während beide spektakulär auf einer sich um die eigene Achse drehenden Plattform wie auf einem Schicksalsrad kreisen. Estrellita kann die Berührung von Männern nicht ertragen. Der sie umschlingende Arm wird von ihr mit männlicher Aggressivität gleichgesetzt und so fühlt sie sich zu dem Sonderling aufgrund der besonderen Beschaffenheit seines Körpers hingezogen.
Alonzos engster Gefährte ist Cojo, ein buckliger Zwerg, der in der Manege als Mephisto auftritt und der allein um das Geheimnis seines Freundes weiß. Die große Attraktion des Zirkus verbirgt seine Arme lediglich in einem Korsett, um geschützt durch seine Identität des Nachts Einbrüche zu begehen. Als der Direktor, der Vater Estrellitas, die Verbindung zwischen seiner Tochter und dem Deformierten unterbinden will, entdeckt er dessen Geheimnis und wird von Alonzo erwürgt.
Estrellita wird Zeuge des Mordes an ihrem Vater. Sie sieht nicht das Gesicht des Täters, jedoch dessen Hand, deren eigenwillige Formung zwei Daumen aufweist. Um dem Verdacht des Mordes zu entgehen, aber auch um die Liebe der Frau  zu gewinnen, verlässt Alonzo den Zirkus und lässt sich beide Arme amputieren. Er kehrt zu Estrellita zurück, doch diese hat ihre Ängste überwunden und sich in den muskulösen Kraftprotz Malabar verliebt. Der begrüßt Alonzo herzlich wie einen guten Freund. Er verkennt den Konkurrenten. Alonzos abweichende Körperlichkeit wird als Kastration begriffen, die ihn im Spiel um die Liebe bedeutungslos werden lässt. Enttäuscht sinnt Alonzo nach Rache. So weit, so wild. Tod Browning hat diese grandiose Verstümmlungs-Phantasie als ausschweifend-bizarres Melodram, als einen Exzess der Körper inszeniert. Solch grenzensprengende Kraft hat das Hollywoodkino selbst in einer Zeit der Beeinflussung durch die Gegenkultur nicht mehr erreichen können. Mit einer ungeheuren Selbstverständlichkeit rückt das Andere und seine Sexualität in den Mittelpunkt der Geschichte, werden irrsinnige SM-Szenerien entworfen.
Browning führt uns in die Welt des Zirkus, der Akrobaten, Gaukler, Clowns und Illusionisten, der Deformierten und Freaks, eine Welt in der die Abweichung gefeiert wird und als Star in die Manege einzieht. Der Zirkus, die Schausteller, der Karneval, hier findet das Kino seinen Ursprung und führt in außergewöhnlichen Filmen immer wieder zu ihm zurück. Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (1919) reflektiert über die Kinoillusion, über das Schauen und das Zur-Schau-Stellen und führt die Illusion ad absurdum, Anton Diffring in Circus of Horrors (1963) formt bzw. verformt die Gesichter junger Frauen, die Montage fügt  nicht nur ihre harmonisierten Körper zusammen, sondern offenbart uns die Verletzungen, die eigenwilligen Landschaften der Gesichter und schließlich ist da auch noch Brownings vielleicht wichtigster Film Freaks (1932), der aufregendste und abgründigste aller Showfilme, der die Bedürfnisse der Anderen artikuliert.
Dark Carneval heißt bezeichnenderweise ein Buch über Tod Brownings Werk. Bereits in früher Jugend schloß er sich einem Wanderzirkus an. In einer seiner Performances ließ er sich lebendig in einem Sarg begraben, während das Publikum mit Hilfe eines optischen Gerätes Einblick in den Sarg nehmen konnte. Über kleinere Rollen in Kurzfilmen gelangte er schließlich ins Filmgeschäft, arbeitete als Regieassistent, Drehbuchschreiber und Regisseur. Zu seinen bekanntesten Arbeiten aus den Zehner Jahren gehört das Drehbuch zu The Mystery of the Leaping Fish (1915), in dem ein Meisterdetektiv sich kiloweise Kokain ins Gesicht schmiert und die Assistenz zu Griffiths Klassiker Intolerance, der nicht nur eine Weiterentwicklung und Perfektionierung der bis dahin gebräuchlichen Montagetechniken bedeutete, sondern dessen eindrückliche Bilder eines verschwenderisch-dekadenten Babylon die Vorstellung des alten Hollywood prägten.
The Wicked Darling (1919), ein Melodram für Universal, markiert die erste Zusammenarbeit zwischen Browning und seinem großen Star Lon Chaney, der in seinen Filmen eine Vielzahl von erstaunlichen körperlichen Metamorphosen präsentierte. Seine Masken ließen den Körper zu einem unerschöpflichen Experimentierfeld werden. Zehn weitere gemeinsame Filme folgten, darunter Outside the Law (1921), The Unholy Three (1925), der leider verschollene London after Midnight (1927), West of Zanzibar (1928) und Where East is East (1929). All diese Filme zeichnet ihre Vorliebe für das Körperlich-Andere aus und eine morbide Überzeichnung der Dramaturgie des Melodrams. Zwerge, Transvestiten, Siamesische Zwillinge, Riesen, verkrüppelte Illusionisten treten auf und unterhöhlen meist bürgerliche Systeme und Institutionen. In dem ohne Chaney entstandenen The Show (1927) wird diese Ikonographie noch ergänzt durch einen Kopf mit Spinnenkörper oder einer Frau ohne Unterleib.
The Unknown ist der schönste Film unter Brownings Extravaganzen, die er zusammen mit seinem favorisierten Schauspieler Lon Chaney inszeniert hat. Chaney hat in diesem Film einige seiner denkwürdigsten Auftritte. Die Sequenz in der Alonzo sich entschließt seine Arme zu amputieren ist von beeindruckender Intensität. Er sitzt in einem Sessel, hat die Arme auf die Lehnen abgelegt, stützt seinen Kopf auf dem rechten Fuß ab, er hebt ihn und ballt den Fuß zur Faust. Von ihm selbst unbemerkt vernachlässigt er seine Arme, zündet sich selbst seine Zigarette mit dem Fuß an. Die Arme werden als funktionsloser, überflüssig gewordener Teil des Körpers dargestellt. Verschiedenste Mienen, Gefühlsakkorde drängen in Chaneys Gesicht ineinander: Erstaunen, Entsetzen, dunkle Vorahnung, Erlösung, aufblitzender Wahnsinn, während sich ein Tränenschimmer in seinen Augen bildet, bis der Entschluß gefasst ist. Sein Spiel weist dabei eine ähnliche Komplexität auf wie das von Asta Nielsen oder Conrad Veidt.
Der Film selbst ist ungemein spannend erzählt und setzt seine filmischen Mittel effektiv ein. Einige Szenen erscheinen wie durch ein transparentes Leinentuch gefilmt, dessen Muster sich über die Gesichter und Räume legt und sie ins Traumartige, Artifizielle stilisiert. Browning experimentiert mit dem Material. Immer wieder sind es Illusionen, Tricks die den Reiz seiner Filme ausmachen, mal entlarvt er sie, mal spielt er sie bis zum Ende hin aus.
Ein Film wie The Unknown von einem großen Studio wie der MGM wäre heute nicht mehr möglich. All die wunderbaren Ideen würden wohl nur noch als grotesk-ironische Übertreibung in einer kleinen Independentproduktion ihren Platz finden. Umso erfreulicher das The Unknown den Zeiten, dem leicht zerstörbaren Material getrotzt hat. TCM hat den Film zusammen mit Laugh, Clown Laugh (1928) und Ace of Hearts (1921) als Lon Chaney Collection veröffentlicht. Die Bildqualität ist hervorragend und es gibt einen sehr guten Audiokommentar von Chaney-Biograph Michael F. Blake. Ebenfalls auf der Disk ist die anderthalbstündige Dokumentation Lon Chaney: A Thousand Faces , die jede Menge Material aus Chaneys Filmen zeigt und Personen wie Ray Bradbury, Orson Welles oder Michael F. Blake zu Wort kommen lässt. Die außergewöhnliche Qualität der Veröffentlichung wird gekrönt durch eine abgefilmte Rekonstruktion des verschollenen London after Midnight anhand von Photos. Während Brownings berühmte Horrorfilme aus der frühen Tonfilmära ( Dracula (1931), Freaks, Mark of the Vampire (1935), Devil Doll (1936) ) mittlerweile alle auf DVD vorliegen ist sein Frühwerk noch relativ unerschlossen. Zu essentiellen Browningfilmen wie The Unholy Three, The Black Bird (1926), The Road to Mandalay (1926), The Show, West of Zanzibar, Where East is East und The Thirteenth Chair (1929) liegen leider bisher keine DVD-Veröffentlichungen vor. The Wicked Darling und Outside the Law sind bei Image Entertainment auf DVD erschienen, von The Road to Mandalay und The Legion of Death (1918) existieren Videokassetten. The Blackbird ist im Rahmen einer Lon Chaney-Nacht im Fernsehen gelaufen zusammen mit The Unknown und Victor Sjöströms großartigem Bastard aus Horrorfilm und Melodram He who gets slapped (1924). Wer lange sucht und in einer größeren Stadt wohnt, der kann West of Zanzibar oder Where East is East hin und wieder in einem kleinen Off-Kino entdecken.

Beitrag geändert von CVeidt (22.January 2008 09:01:59)