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Winnipeg, im Jahre 1933: Die Weltwirtschaftskrise hat nach dem Zusammenbruch der New Yorker Börse im Jahre 1929 ihren Höhepunkt erreicht und der Weltbevölkerung geht es mehr schlecht als recht. Der Ort in der kanadischen Provinz ist bereits zum vierten Male von der „London Times“ zur Welthauptstadt des Kummers gewählt worden und bietet allerlei traurigen Gestalten und Prohibitions-Flüchtigen Zuflucht. In dieser Zeit der Traurigkeit hat die reiche Brauerei- und Bierlokal-Besitzerin Lady Helen Pont-Huntley einen glänzenden und geschäftstüchtigen Einfall. Mit einem Wettbewerb soll in Winnipeg das Land mit der traurigsten Musik der Welt ermittelt werden um danach nicht ganz uneigennützig neue Absatzmärkte für ihr vergorenes Produkt zu erschließen. Weniger die zu gewinnende und mit Juwelen besetzte „Krone aus gefrorenen Tränen“, sondern eher das ebenfalls in Aussicht gestellte Preisgeld von 25.000 Dollar lässt auch schon kurze Zeit später zahlreiche Musikanten aus aller Welt in das winterlich-verschneite Kanada reisen.
Unter den zahlreichen Anwärtern befindet sich neben afrikanischen Trommler, spanischen Flamenco-Truppen und siamesischen Flötenspielern auch der schmierige und glücklose Broadway-Produzent Chester Kent (Mark McKinney), der dringend Geld für eine neue Produktion benötigt. Chester war einst der Geliebte von Lady Helen, in die auch sein Vater Fyodor (David Fox) unsterblich verliebt war und noch immer ist. Nach einem tragischen Autounfall, bei dem auch Chester beteiligt war, hat der Arzt Fyodor Lady Helen die Beine amputiert, da er betrunken erst beim zweiten Versuch den richtigen Fuß erwischte. Nach dieser Begebenheit hat Fyodor seine Arztlizenz zurückgegeben und sucht – von Füßen besessen – nach einer geeigneten Prothese für Lady Helen, die sich aus Scham über ihre körperlichen Behinderung nur noch mit Menschen umgibt, die sie bezahlt, ihr untergeben sind oder Augenbinden tragen müssen.
Doch noch ein aussichtsreicher Kandidat kommt nach Winnipeg. Es ist Roderick a.k.a Gravillo, der traurige Cellist aus Serbien. Dieser hat nach dem Tod der Mutter und einem Disput mit seinem Bruder Chester die Familie verlassen. Während Chester nach dem Tod der Mutter nicht getrauert hat, hat Roderick versunken im Leid, in Belgrad eine neue Heimat gefunden. Doch auch seine Jahre in Europa waren nicht von Freude geprägt Er hat seinen Sohn verloren und trägt seitdem dessen kleines Herz in Tränen eingelegt immer bei sich. Mit dem Preisgeld in der Tasche möchte er nach seiner Frau Narcissa (Maria de Medeiros) suchen, die ihn nach dem Tod des gemeinsamen Kindes verlassen hat. Diese hat alle Erinnerungen an ihren Mann und an den Verlust ihres Kindes verloren und ist seit Jahren wie vom Erdboden verschluckt. Doch Narcissa ist mittlerweile die Geliebte des verhassten Bruders.
Der Wettbewerb startet und wird nach dem Ko-System ausgetragen. Und während die ganze Welt per Radio die spannenden Bewerbe verfolgt, erklingen im winterlichen Winnipeg tieftraurige Lieder über Kriege, tote Kinderseelen, Begräbnis-Rituale, vertriebene Völker, Kriege und andere Katastrophen. Doch während sich der hypochondrische Roderick auf sein musikalisches Talent und seine Melancholie verlassen, versucht sein opportunistischer Bruder seine ehemalige Liason mit Lady Helen aufzuwärmen und sich so den Spitzenplatz bzw. die 25.000 Dollar zu sichern. Fyodor schenkt Lady Helen Fußprothesen aus Glas, stirbt jedoch kurze Zeit darauf, als er erkennen muss, dass ihm auch diese noble Geste keine Vergebung für seine schreckliche Tat bringen kann, die er vor Jahren an seiner großen Liebe begangen hat. Lady Helen hingegen erhält für kurze Zeit ihre alte Lebensfreude zurück und stürzt sich neuerlich in eine Affäre mit dem schmierigen Chester. Roderick hingegen versucht die Erinnerung von Narcissa wieder zu erwecken, scheitert jedoch an ihrem Versuch des Vergessens. Die Bewerbe vergehen und am Ende stehen sich die beiden unterschiedlichen Brüder im Finale gegenüber, dass für einige der Beteiligten in einer Katastrophe mündet…
Als ich gefragt wurde, ob ich Interesse daran hätte, diesen Film zu rezensieren, hab ich mir ja eigentlich nach dem Lesen der kurzen Inhaltsangabe ein tieftrauriges Musical erwartet, dass den geneigten Zuschauer in die dunklen und traurigsten Kapiteln der menschlichen Gefühlsregungen entführt. Doch das ist jedoch nicht wirklich der Fall. Sicherlich erzählt der im Jahre 2003 entstandene „the saddest music in the world“ die traurigen Geschichten von unterschiedlichen Menschen, denen im Leben viel Leid widerfahren ist. Jedoch sind diese Geschichten immer wieder mit bitterbösen und tragik-komischen Einfällen unterbrochen, dass Traurigkeit beim Zuseher auch nicht so wirklich aufkommen mag. „The saddest music in the world“ ist ein grandioser Film mit einer äußerst skurrilen und durchdachten Geschichte voller schräger Charaktere, der phantasievoll inszeniert eine gelungene Verneigung an die alte Schwarzweiss-Filme aus einer Zeit darstellt, als die Bilder laufen lernten.
Der Film präsentiert dem Zuschauer zahlreiche Charaktere, die in der Vergangenheit allesamt tragische Erlebnisse erleiden mussten und nun auf die unterschiedlichste Weise damit fertig werden. Der schmierige und selbstverliebte Chester weigert sich zu trauern, verdrängt seinen Kummer und inszeniert lieber fröhliche Musicals als sich mit den traurigen Aspekten des Lebens und dem Verlust geliebter Menschen zu beschäftigen. Im Gegenüber steht sein beinahe traumatisierter Bruder Roderick, der seinen tieftraurigen Gefühlen völlig freien Lauf lässt, sich in eingebildete Krankheiten flüchtet und seinem Selbstmitleid und Kummer erliegt. Vater Fyodor hat seine Frau verloren und verliebte sich danach in eine Frau, die er nie haben konnte. Er flüchtete in den Alkohol und hat die einzige Chance seiner großen unerfüllten Liebe einen Dienst zu erweisen gründlich verbockt. Narcissa, die liebenswert verwirrte Frau ohne Erinnerung hat ihre Vergangenheit einfach verdrängt um so mit ihrem Kummer fertig zu werden und Lady Helen, die reiche Bierbaronin ergötzt sich voller Hass auf den Verlust ihrer Mobilität und der ihrer Meinung damit verbundenen Lebensfreude am Leid anderer Menschen.
Die Geschichte von Literaturpreisträger Kazuo Ishiguro, welches von Guy Maddin und George Toles als Drehbuch adaptiert wurde, bietet jedenfalls genug Ansätze für seitenlange Interpretationen und stundenlange Diskussionen über menschliche Verhaltensweisen. Außerdem bietet die interessante Story haufenweise kleine, ironische Seitenhiebe auf Bevölkerungsschichten, traditionelle Riten bis hin zu der Ver-Amerikanisierung und Käuflichkeit unserer Gesellschaft. Geld stinkt nicht, weiss auch Lady Helen in einer Szene, in der meint, dass die Menschheit zwar teils nicht genug Geld hat, um ihren Kindern Schuhe zu kaufen, Essen zu kaufen und Mieten zu zahlen, jedoch ohne Zögern bereit ist, das letzte Ersparte noch in alkoholische Getränke zu investieren um den Kummer darüber zu ertränken. Das Alkohol in solchen Situationen natürlich keine große Hilfe ist und nur noch weiteren Kummer und Kopfschmerzen verursacht, darüber sollte sich aber meine werten Leser schon im Klaren sein – gell, Kinder?
Aber zurück zum Film: Guy Maddin, der „antiquarische Avantgardist“ (O-Ton New York Times) verpackt die Melancholie seiner Protagonisten ist grobkörnige Bilder im Stil alter S/W-(Stumm)-Filme und Wochenschauen. Diese Bilder sind nur wenige Male durch farbige Sequenzen unterbrochen. Dabei handelt es sich um traurige Erinnerungen der beiden Brüder, die in blau gehalten sind, oder Begräbnisse und noch tragischere Momente, die in Farbe gedreht wurden und dem Film eine zusätzliche, surrealistische Note verleihen. Da Film-Journalisten jedoch immer eine Schublade für Regisseure benötigen, wird Maddin auch gerne mit dem jungen David Lynch, aber auch (Obacht!) mit Schmuddelfilmer Ed Wood verglichen. Meiner Meinung nach jedoch ein mehr als gewagter Vergleich, da sich Herr Maddin zwar ein wenig an dessen Ästhetik der billigen Effekt-Realisierung bedient, jedoch aus vollkommen anderen Beweggründen, als es Wood seinerzeit für seine liebenswerten Filme tat.
Das der Ort Winnipeg als Austragungsort für dieses Saddest-Music-Contest ausgewählt wurde, kommt daher nicht von ungefähr. Regisseur Guy Maddin ist am 28. Februar 1956 in Winnipeg geboren. Diese Stadt mit über 600.000 Einwohnern in der kanadischen Provinz Manitoba befindet sich nicht nur in einem Hochwassergebiet, sondern ist auch eine der kältesten Städte der Welt. Durchschnittlich 5 Monate im Jahr kommt das Thermometer nicht über den Gefrierpunkt hinaus. Also im Grunde auch der ideale, unwirtliche Ort für einen derartigen Bewerb des Kummers und der Traurigkeit. Maddin hat „seiner“ Stadt, in der er lebt und wirkt im Jahre 2007 auch mit der Dokumentation „My Winnipeg“ ein weiteres, filmisches Denkmal gesetzt.
Der Regisseur selbst hat zwar ein wirtschaftliches Studium absolviert, jedoch das Filmemachen nicht auf einer Hochschule erlernt. Vielmehr hat er sich sein Wissen durch endloses Schauen von Filmen beigebracht. Das er sich schlussendlich selbst hinter der Kamera versuchte, hatte er Freunden zu verdanken, die ihn ermutigten sein eigenes Ding zu drehen. Sein Stil ist Ästhetik bedient sich zwar bei alten Filmen, die Thematiken seiner Filme sind jedoch eher radikal und provozierend. So schafft Herr Maddin auch galant den Spagat zwischen alt und neu und begeistert Kritiker und Publikum mit seinen Werken rund um den Globus. Doch nicht nur als Regisseur von weit über 30 Kurz- und Langspielfilmen seit dem Jahre 1986 ist Herr Maddin sehr aktiv, er arbeitet nebenher auch noch als Produzent, Darsteller, Drehbuchautor aktiv an anderen Filmen mit.
Auch bei den Darstellern wurde alles richtig gemacht. Isabella Rossellini hat ja – imho - in ihrem ganzen Leben noch in keinem schlechten Film mitgespielt und brilliert auch in „the saddest music in the world“ als traurige Bierbaronin. Egal ob Big-Budget, Lynch-Film oder billige Indie-Produktion, Miss Rossellini spielt stets mit vollem Einsatz bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus. Ihr zur Seite stehen die vom Film-Publikum nicht minder geschätze Maria de Medeiros, die sich auch noch nie für einen außergewöhnlichen Film zu schade war. Hinter ihrem engelsgleichen, sanften Gesicht lauern wie immer tiefe Abgründe. Die männliche Riege mag da vielleicht in Punkto Bekanntheitsgrad nicht mithalten können, macht aber ihre Sache auch mehr als gut. Und auch die Musik von Christopher Dedrick, teils traurig, teils beschwingt, überzeugt ebenso wie die tollen Kostüme und Settings auf der ganzen Linie.
Diese umjubelte Perle des internationalen Independent-Films (O-Ton Presseheft) ist die zweite Veröffentlichung des noch jungen Berliner DVD-Labels „Cinema Surreal“. Und an der Scheibe gibt es auch (fast) nichts zu meckern. Sicherlich wird es wieder einmal den einen oder anderen Menschen geben, der das Fehlen einer deutschen Synchron-Fassung bekritteln wird. In der Tat wird der Film auch „nur“ in seiner Originalversion mit deutschen Untertiteln präsentiert. Dem Programmkino-geeichten Zielpublikum wird das aber vermutlich egal sein. Bild- und Tonqualität objektiv zu beurteilen ist bei so einer Lo-Fi-Produktion natürlich nahezu unmöglich. Das grobkörnige Bild mit all seinen Schwächen, Überblendungen, Verschmutzungen und Verwischungen ist vom Regisseur ein bewusst eingesetztes Stilmittel und verleiht dem Film eine außergewöhnliche Optik, die sich auch bei den zahlreichen Kurzfilmen im Bonusbereich wieder findet. Dort trifft man dann auch auf bekannte Gesichter des Hauptfilms, wie z.B. die Eishockeymannschaft, den Schlafwandler bzw. die ein oder andere Musikantentruppe.
Hervorheben möchte ich hier auf jeden Fall den ebenfalls außergewöhnlichen „Coward bend the Knee“ (Nur Versager gehen in die Knie) der ebenfalls im Jahre 2003 entstanden ist. Dieser knapp 62minütige Film erzählt anhand von düsteren S/W-Bildern, Geräuschen und jeder Menge Texttafeln die skurrile Geschichte eines jungen Mannes mit Amnesie, der sich in eine Geschichte voller sexueller Obsessionen, Mord und Vergeltung, Schuld und Sühne verstrickt. Und noch ein absolutes Highlight befindet sich etwas versteckt im Bonusmaterial. Der Kurzfilm „the heart of the world“, welcher nicht nur aufgrund des Settings und dem Styling der Darsteller an Fritz Langs „Metropolis“ aus dem Jahre 1927 erzählt. Dieser 6 Minuten lange Kurzfilm erzählt nicht nur eine originelle Geschichte, sondern enthält auch noch eine wunderbare Botschaft über das "wahre Herz der Welt". Das restliche Bonusmaterial besteht aus drei weiteren kurzen Filmen, welche im Zusammenhang mit „the saddest music in the world“ entstanden sind.
„The saddest music in the world“ ist zweifelsfrei einer der originellsten und ungewöhnlichsten Filme, die mir in den letzten Jahren vor die Linse gekommen wird. Das ausgeklügelte Drehbuch, die außergewöhnliche Umsetzung, die tollen Schauspieler und die Vielzahl von kleinen Ideen, die es zu entdecken gilt, kann dann auch nur eine Bewertung im oberen Bereich zulassen. Meine ganze Lobhudelei ist wie auch die zahlreichen internationalen Auszeichnungen jedenfalls absolut gerechtfertigt. Zugegeben, der Film ist vielleicht nicht jedermanns Sache, aber definitiv mehr als bloß einen Blick wert. Ein vergleichbares Werk würde mir jetzt auch erst gar nicht einfallen. Die schicke Veröffentlichung ist ebenfalls mehr als gelungen und überzeugt durch zahlreich-mitgeliefertes Bonusmaterial. Ich bin begeistert und daher gibt es an dieser Stelle von mir auch 8,5 von 10 ausgetrunkenen Problembewältigungs-Bieren: If you´re sad and like beer – this is your film…
Beitrag geändert von jogiwan (05.November 2007 10:07:11)
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