project: equinoX - Das deutschsprachige DVD und Film Projekt im Internet
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Ein schüchterner und namenloser Mann entdeckt eines Tages auf der Suche nach einem Geschenk für seine Angebetete den Laden einer jungen Frau, die in ihrem Schaufenster verschiedene Köpfe feilbietet. Als der junge Mann neugierig das Geschäft betritt, drängt ihn jedoch ein anderer Mann beiseite, der sich vor den überraschten Augen des anderen Mannes von der jungen Frau mit den roten Haaren mittels besonderer Schraubtechnik einen neuen Kopf auf seinen Körper setzen lässt. Der junge Mann ist zwar von dem bizarren Schauspiel fasziniert, aber kauft für seine große Liebe in dem kleinen Laden lediglich eine Blume, die er sich von der freundlichen Verkäuferin verpacken lässt.
Zurück bei seiner verwöhnten Angebeteten, ist diese zwar vom jungendlichen Körper des Mannes angezogen, doch von dessen Kopf will die arrogante Dame trotz zaghafter Annäherungsversuche des Mannes nicht wissen. Der Zurückgewiesene ist enttäuscht und beschließt seinem Köper von der hübschen Verkäuferin ebenfalls ein neues Antlitz zu verpassen. Doch auch der neue Kopf stößt auf wenig Gegenliebe und weitere Versuche mit neuen Köpfen bleiben ebenfalls erfolglos. Nach einiger Zeit beschließt der enttäuschte Mann zu seiner ursprünglichen Erscheinungsform zurückzukehren und eilt in das Geschäft zurück um mit Schrecken festzustellen, dass die junge Verkäuferin ihren Laden mittlerweile aufgegeben hat…
Der am 7. Februar 1929 als Kind einer jüdischen Auswandererfamilie in Chile geborene Regisseur und Multitalent Alejandro Jodorowsky zählt sicher zu den polarisierendsten Figuren der Filmlandschaft und während er von seinen zahlreichen Fans für seine obskuren Werke fast schon kultisch verehrt wird, so stößt er auf der anderen Seite mit seinen sperrigen Werken und übergroßen Ego auf weit weniger Gegenliebe und der Regisseur wird nicht müde zu betonen, dass er seine Werke im Grunde stets für sich selbst realisierte und seit jeher eher wenig auf die Befindlichkeiten seines Publikums wert legt. Obwohl Jodorowsky seit dem Jahr 1957 lediglich einen Kurzfilm und sieben Langfilme gedreht hat, sich mit Produzenten und Darstellern immer wieder verworfen hat und mit dem Versuch seiner größenwahnsinnigen Verfilmung des Sci-Fi-Epos „Dune“ aus der Feder von Frank Herbert grandios gescheitert ist, zählt Jodorowsky mit seinen überschaubaren Output aber auch zu den interessantesten und kompromisslosesten Figuren, die das Filmbusiness zu bieten hat.
Nachdem er in Santiago de Chile Psychologie studierte und bereits als Theaterregisseur und -schauspieler agierte, zog er 1955 nach Paris und studierte die Kunst der Pantomime an der Seite von Marcel Marceau. Er realisierte 1957 seinen ersten von dieser Zeit des Studiums inspirierten und dialog-losen Kurzfilm „Die Krawatte“ und gründete mit Fernando Arrabal und Roland Topor die anarchistische Kunstbewegung „Mouvement panique“ das in Anlehnung an den mystischen Gott Pan und von Luis Bunuel inspiriert hauptsächlich dazu geschaffen wurde um das Publikum mit unkonventionellen Theaterstücken, radikalen Themen und Darbietungen zu schockieren. Danach lebte er wahlweise in Paris und Mexiko und verursachte mit seinem Film „Fando und Lis“ bei den Filmfestspielen in Acapulco einen handfesten Skandal und wurde mit dem surrealistischen Western und ersten „Midnight-Movie“ der Kinogeschichte „El Topo“ zum Liebling der New Yorker-Kunstszene und international bekannt.
Danach folgten Filme wie der bizarre Selbstfindungstrip und mein persönlicher Jodorowsky-Lieblingsfilm „Montana Sacra - Der heilige Berg“, sowie der bislang auf DVD unveröffentlichte und vom Regisseur offenbar ebenfalls verschmähte Streifen „Tusk“ über die Seelenverwandtschaft eines Mädchens zu einem indischen Elefanten aus dem Jahr 1980, der in französischer Produktion entstand. Neun Jahre danach folgte das von Claudio Argento produzierte und bildgewaltige Psychodrama „Santa Sangre“ mit Sohn Axel in der Hauptrolle und der in Polen gedrehte und eher märchenhafte „The Rainbow Thief“ über den Wert von Freundschaft mit Omar Sharif und Peter O’Toole in den Hauptrollen, ehe Jodorowsky mit dem 2013 uraufgeführten und mir bislang unbekannten und autobiografisch gefärbten Streifen „La danza de la realidad“ mit dem Jodorowsky im Jahr 2013 ein künstlerisches Comeback feiern konnte.
„Die Krawatte“ war wie bereits erwähnt im Jahre 1957 noch vor der Gründung des „Panic Movements“ der erste Ausflug in die Filmbranche und mit dem knapp 20 minütigen und Dialog-losen Streifen hat der Regisseur ein Werk geschaffen, das zwar in Punkto Bildgewalt nicht wirklich mit seinen späteren Werken vergleichbar ist, aber mit einer surrealen Geschichte und clownesken Figuren schon einige Trademarks beinhaltet, denen Jodorowsky auch in späteren Filmen treu bleiben sollte. Die Geschichte über die Untrennbarkeit von Geist und Körper ist mit der Akkordeon-Musik von Edgar Bischof dabei eine recht freie Adaption von Thomas Manns Geschichte mit dem Titel „Die vertauschten Köpfe“, die von Jodorowsky und Konsorten auf pantomimische Weise und vor bewusst sehr naiv gestalteten Papier- und Karton-Kulissen auf die Leinwand übertragen wird.
Jodorowksy Frühwerk galt ja anscheinend fast ein halbes Jahrzehnt als verschollen und wurde der Legende nach im Jahre 2006 auf einem deutschen Dachboden (!) und ausnahmsweise mal nicht in einer russischen Salzmine gefunden. Der Streifen wurde auf liebevolle Weise restauriert und erstmalig im Rahmen der amerikanischen Box von Anchor Bay im Jahre 2007 einem breiteren Publikum präsentiert und auch wenn „Die Krawatte“ keinen allzu großen Bezug auf das längliche Stück Stoff hat, welches mittels Knoten um den Hals getragen wird, ist das Ergebnis sehr passabel ausgefallen. Zwar hat Jodorowsky nicht viel zu seinem ersten und nach eigener Aussage Amateur-haften Ausflug in die Filmbranche zu sagen, aber auch der französische Schriftsteller, Autor und Regisseur Jean Cocteau war von dem Werk durchaus angetan
Trotz der ominösen Dachbodengeschichte war „Le Cravate“ auch hierzulande bislang unveröffentlicht und erlebt nun seine deutsche VÖ-Premiere im Rahmen der empfehlenswerten, opulent ausgestatteten und wunderbaren Alejandro-Jodorowsky-Box des Labels Bildstörung, die den Kurzfilm gemeinsam mit „Fando und Lis“ und der schweizerischen Dokumentation „La Constellation Jodorowksy“ auf der ersten DVD bzw. im Digpack neben den beiden Filmen „El Topo“ und „Der heilige Berg“ in einer geschmackvoll gestalteten Box präsentiert. Die Bild- und Tonqualität ist jedenfalls angesichts der Umstände überraschend gut und da es in dem zwanzigminütigen Werk keine Dialoge gibt, entfällt daher auch die Sache mit einer etwaigen Synchro.
Unterm Strich bleibt ein eigentlich sympathischer und durchaus interessant gemachter Kurzfilm über Liebe, Geist und Körper mit dem Alejandro Jodorowsky im Jahr 1957 vor und hinter der Kamera in Paris seine ersten Versuche mit dem Medium Film realisierte und dabei auch noch weniger die Provokation des Publikums im Auge hatte. „Die Krawatte“ ist ein pantomimisches und Stummfilm-inspiriertes Werk mit theatralischer und bewusst naiv-gestalteter Ausstattung, das mit seiner eher konventionellen Herangehensweise innerhalb des Outputs sicher eine Art Ausnahmestellung einnimmt, aber den Zuschauer mit seiner surrealen Geschichte und theatralisch-überzeichneter Darstellung und Figuren auf sanfte Weise auf das einstimmt, was in den kommenden Jahrzehnten aus der Hand des Ausnahmeregisseurs darauf noch so folgen sollte.
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@ Jochen,
vielen Dank fürs Review, ist nun auch schon Online: http://chilidog.project-equinox.de/?page_id=9713
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